Denklatenz

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la guerre- ce sont nos parents

Ernst Glaeser: Jahrgang 1902

Der Roman von Ernst Glaeser Jahrgang 1902 wurde 1928 in Potsdam veröffentlicht. Das erste Buch beginnt mit dem Untertitel la guerre - ce sont nos parents. (Krieg – das sind unsere Eltern)

09. Juli 2011

von René Buchfink

Der in weiten Zügen autobiografische Roman, erzählt die Geschichte des Knaben und Heranwachsenden der den Namen Ernst trägt. Aufgeteilt in zwei Bücher beschreibt das erste Buch, den schulischen und bürgerlichen Werdegang des jungen Ernst und die plötzlich aufkommende Kriegseuphorie im Sommer 1914. Das zweite und kürzere Buch beschreibt die Zeit des 1. Weltkrieges und die Ohnmachtempfindungen der Zivilbevölkerung während der Kriegsjahre.

Ich lernte Ferd kennen, als er sechs Jahre alt war. Er nahm in unserer Schule eine Sonderstellung ein. Sein Intellekt, durch die Reisen und den Umgang mit seinem Vater frühzeitig geweckt, sicherte ihm eine Überlegenheit, die seinem schweigsamen Wesen gut anstand.

Ich bewundere Ferd. heißt es vom Ich-Erzähler, den Ernst ist um dessen Freundschaft ersucht. Leo Silberstein ist der dritte der ungleichen Bande. Leo Silberstein ist ein zu schützender, schwächlicher Junge, der die volle härte der gängigen judenfeindlichkeiten Ressentiments seiner meisten Mitschüler zu spüren bekommt. Ferd und Ernst sind bemüht sich schützen zu ihn zu stellen.

Mit zunehmenden Alter von Ernst werden die kindlichen Spiele mehr und mehr zur Nebensache und die Frage nach dem Geheimnis kommt ihn ihm auf. Mit den Mitteln eines zarten Knaben versucht er das Geheimnis zu ergründen. Es wird ihm lange Zeit nicht gelingen, soviel sei hier verraten. Eine weitere Facette des ersten Teil Buches sind die kritischen Blicke auf das Obrigkeitsgedünkel. Arbeiteraufstände die von Sozialdemokraten Kremmelbein angeführt werden und vom Regierungsasseccor Dr. Persius gekontert werden, sie geben Hinweise darauf in welcher schwieriger Lage sich die Lohnarbeiter in dieser Stadt (vermutlich Offenburg) befinden.

Der Wartesaal war überfüllt. Von Hand zu Hand ging ein Telegramm: die deutsche Kriegserklärung an Rußland.
Wegen der Brüder in Österreich.
Die "Wacht am Rhein" wurde gesungen und das Flaggenlied. Der Professor sang mit, auch meine Mutter. Ich hatte Angst vor so viel Fröhlichkeit, denn ich musste immer noch an Gaston denken. Wenn Gaston hier gewesen wäre, hätte ich gerne mitgesungen. […] Sehen Sie das Volk, sagte der Professor zu meiner Mutter, wie begeistert es ist und einig unter sich. Rechtfertig das allein nicht schon den Krieg? Er deutete auf den Wartesaal, der von Gesang und lauten Gesprächen dröhnte. Die Menschen riefen sich "Bruder" zu. […] Dieser Krieg, antwortete der Professor, ist ein ästhetischer Genuß sondergleichen. Zum ersten mal sehe ich die Volksseele sich entfallen.

Ernst Glaeser beschreibt den Genuss und die vorherrschende Euphorie ausführlich, der Sturz wird umso tiefer sein. Das dieser Genuß bei den daheimgebliebenen nach und nach, mit den ersten Toten und den Hungerwintern, in das Entgegengesetzte umschlägt, ist kein Geheimnis. Der immer noch junge Ernst wird notdürftig unterrichtet, wird notdürftig konfirmiert, wird notdürftig mit Lebensmitteln versorgt, wird aufs Land verschickt. Die Entbehrungen, das Leben ohne Väter, werden zum Trauma einer ganzen Generation, so Glaeser. Die Erinnerung an den Halbsatz la guerre- ce sont nos parents schwingt hier immer mit.

Weißt du, sagte er […] ich habe heute meinem Vater geschrieben! Ja, sagte ich, über die Schärfe seiner Stimme betroffen, das glaube ich. Aber wo ist den dein Vater?

Dieser Dialog zwischen Ferd v. K. und Ernst ist bezeichnend für den Jahrgang 1902. Dieser Roman beschreibt die zivilen Seiten der Zeit zum Ende des Deutsche Kaiserreich. Der Roman endet mit dem Tot von Anna. Es ist Ernst erste große Liebe, sie kommt durch ein Fliegerangriff ums leben.

Die Erlebnisse und Dramen des kleinen Ernst während des großen Krieges, kumulieren weiter, bis hin zur zweiten großen Katastrophe des 20.Jhd. In Jahrgang 1902 werden genau die Menschen und Umstände beschrieben, die 21 Jahre nach dem Ende des ersten Weltkrieges, hauptverantwortlich sind, für die Schrecken des von Nationalsozialisten begonnenen zweiten Weltkrieges. Wie schon in Heinrichs Manns Der Untertan, wird auch bei Ernst Glaesers Jahrgang 1902 Kritik an der Obrigkeitshörigkeit spürbar, jedoch bei Glaeser wesentlich ziviler und unironischer als bei Mann. Der Film Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte von Michael Haneke ist thematisch über weite Teile Deckungsgleich mit diesem Glaesers Werk.

Mit der Darstellung eines recht weichen und emotionalen Jungen war der Held der Erzählung ein Gegenstück zu dem, wie das NS-Regime ihre Jugend sehen wollte. Vermutlich haben auch das erotische Gebilde und die leichten homoerotischen Anwandlungen in Jahrgang 1902 zum Verbot während der NS-Diktatur geführt.

Fazit:
Jahrgang 1902 ist ein flüssig zu lesender Roman, mit eindeutigen Identitätsfiguren. Seine Spannung erhält der Roman aus der Mischung erzählter Vorgange, autobiografischen Erlebnissen und geschichtswissenschaftlicher Brisanz. Jahrgang 1902 ist Antikriegsliteratur, und mindestens so eindringlich wie Im Westen nichts Neues, wenn auch anders – unbedingt lesen. Leider ist wird der Roman nicht mehr Verlegt.

[update: es gibt eine Neuauflage vom Wallsteinverlag von 2013]

Fakten: Buchcover: Ernst Glaeser Jahrgang 1902
Bild: Buchcover
Autor: Ernst Glaeser
Titel: Jahrgang 1902
Verlag: Vorliegende Ausgabe
Bertelsman-Lesering 1961
VÖ-Jahr: 1961
EA-Jahr: 1928
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