Verblüfft beobachten wir die Wendigen... Jede revolutionäre Bewegung befreit auch die Sprache. Was bisher so schwer auszusprechen war, geht uns auf einmal frei über die Lippen. Wir staunen, was wir offenbar schon lange gedacht haben und was wir uns jetzt laut zu rufen: Demokratie jetzt oder nie! Und wir meinen Volksherrschaft, und wir erinnern uns der steckengebliebenen oder blutig niedergeschlagenen Ansätze in unserer Geschichte und wollen die Chance,die in dieser Krise steckt, da sie alle unsere produktiven Kräfte weckt, nicht wieder verschlafen; aber wir wollen sie auch nicht vertun durch Unbesonnenheit oder die Umkehrung von Feindbildern. Mit dem Wort "Wende" habe ich meine Schwierigkeiten. Ich sehe da ein Segelboot, der Kapitän ruft: "Klar zur Wende!", weil der Wind sich gedreht hat und die Mannschaft duckt sich, wenn der Segelbaum über das Boot fegt. Stimmt dieses Bild? Stimmt es noch in dieser täglich vorwärtstreibenden Lage. Ich würde von revolutionärer Erneuerung sprechen. Revolutionen gehen von unten aus. "Unten" und "oben" wechseln ihre Plätze in dem Wertesystem und dieser Wechsel stellt die sozialistische Gesellschaft vom Kopf auf die Füße. Große soziale Bewegungen kommen in Gang. Soviel wie in diesen Wochen ist in unserem Land noch nie geredet worden, miteinander geredet worden,noch nie mit dieser Leidenschaft, mit soviel viel Zorn und Trauer und mit soviel Hoffnung. Wir wollen jeden Tag nutzen, wir schlafen nicht oder wenig, wir befreunden uns mit neuen Menschen,und wir zerstreiten uns schmerzhaft mit anderen. Das nennt sich nun "Dialog", wir haben ihn gefordert, nun können wir das Wort fast nicht mehr hören und haben doch noch nicht wirklich gelernt, was es ausdrücken will. Mißtrauisch starren wir auf manche plötzlich ausgestreckte Hand, in manches vorher so Starre Gesicht: "Mißtrauen ist gut, Kontrolle noch besser" - wir drehen alte Losungen um, die uns gedrückt und verletzt haben und geben sie postwendend zurück. Wir fürchten, benutzt zu werden. Und wir fürchten, ein ehrlich gemeintes Angebot auszuschlagen. In diesem Zwiespalt befindet sich nun das ganze Land. Wir wissen, wir müssen die Kunst üben, den Zwiespalt nicht in Konfrontation ausarten zu lassen: Diese Wochen, diese Möglichkeiten werden uns nur einmal gegeben - durch uns selbst. Verblüfft beobachten wir die Wendigen, im Volksmund "Wendehälse" genannt, die, laut Lexikon, sich "rasch und leicht einer gegebenen Situation anpassen, sich in ihr geschickt bewegen, sie zu nutzen verstehen". Sie am meisten blockieren die Glaubwürdigkeit der neuen Politik. Soweit sind wir wohl noch nicht, daß wir sie mit Humor nehmen können - was uns doch in anderen Fällen schon gelingt. "Trittbrettfahrer - zurücktreten!" lese ich auf Transparenten. Und, an die Polizei gerichtet, von Demonstranten der Ruf: "Zieht euch um und schließt euch an!" - ein großzügiges Angebot. Ökonomisch denken wir auch: "Rechtssicherheit spart Staatssicherheit!" Und wir sind sogar zu existentiellen Verzichten bereit: "Bürger, stell die Glotze ab, setz dich jetzt mit uns in Trab!" Ja: Die Sprache springt aus dem Ämter- und Zeitungsdeutsch heraus, in das sie eingewickelt war, und erinnert sich ihrer Gefühlswörter. Eines davon ist "Traum". Also träumen wir mit hellwacher Vernunft Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg! Sehen aber die Bilder der immer noch Weggehenden, fragen uns: Was tun? Und hören als Echo die Antwort: Was tun! Das fängt jetzt an, wenn aus den Forderungen Rechte, also Pflichten werden:Untersuchungskommission, Verfassungsgericht. Verwaltungsreform. Viel zu tun, und alles neben der Arbeit. Und dazu noch Zeitung, essen! Zu Huldigungsvorbeizügen, verordneten Manifestationen werden wir keine Zeit mehr haben, Dieses ist eine Demo, genehmigt, gewaltlos. Wenn sie so bleibt, bis zum Schluß, wissen wir wieder mehr über das, was wir können, und darauf bestehen wir dann: Vorschlag für den Ersten Mai: Die Führung zieht am Volk vorbei. Unglaubliche Wandlungen. Das "Staatsvolk der DDR" geht auf die Straße, um sich als "Volk" zu erkennen. Und dies ist für mich der wichtigste Satz dieser letzten Wochen - der tausendfache Ruf: Wir - sind - das - Volk! Eine schlichte Feststellung. Die wollen wir nicht vergessen. (Rede von Christa Wolff, gehalten am 4. November 1989 in Berlin)