Denklatenz

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Eine Buchbesprechung.

Philip Roth: Der menschliche Makel

Ein Roman der in Zwischentönen die Geschichte Amerikas im 20. Jahrhundert widerspiegelt und ein grandioser Epochenroman, der das Vermögen hatte, 20 Jahre die Zukunft zu blicken.

von René Buchfink

Das Ensemble

Buchcover Roth: Der menschliche Makel
Buchcover: Philip Roth – Der menschliche Makel

Sommer 1998, Coleman Silk, ehemaliger Dekan und Professor für Alte Literatur am Athena College, geht rüber zu seinen Nachbarn Nathan Zuckermann. Ein bekannter Schriftsteller. Beide sind schon länger Nachbarn, kennen tun sich die beiden alten Herren, beide jenseits der Siebzig Jahre, jedoch noch nicht. Zuckermann soll ihm ein Buch schreiben. Über Colemans Leben, aber besonders wegen der Vorkommnisse bei den dunklen Gestalten. Ein Rassismusvorwurf gegen Coleman, der dazu führte das er seine Professur hinwarf und dem Athena College bei dem er Vierzig Jahre lang beliebter und geschätzter Dekan war, verbittert den Rücken zudrehte. Seine Frau Iris, so glaubt der Hinterbliebene, starb auf Grund von Gram. Er sinnt auf Rache und innere Befriedigung.

Coleman, war im Sommer 1998, 71 Jahre alt, wuchs in den 1920er und 30er Jahren an der Ostküste der USA, unter ärmlichen aber zivilisierten Verhältnissen auf. Als Schüler war er ein Ass. Klassenbester, Intelligent, sah gut aus, charmant, sportlich, erfolgreich, ehrgeizig und ambitioniert. Nur seine Herkunft bremste ihn aus. Mit einem Kreuz, gesetzt an der richtigen Stelle, im Formular der US-Navi hat er dieses Hindernis genommen. Eine neue Identität eröffnet ihm die Möglichkeit sich gänzlich zu entfalten. Ein zurück kommt für ihn nicht mehr in Frage, zu schmerzlich sind die gemachten Erfahrungen durch Steena und Ellie, zwei geliebte von Coleman, bevor er Iris seine spätere Frau kennen lernte. Vier Kinder hat er mit ihr. Die Zwillinge Lisa und Marky sowie Jeff und Mike wissen nicht um sein Geheimnis.

Das Geheimnis, wie man mit einem Maximum an Schmerz ein Leben in Trubel der Welt führt, besteht darin, so viel Leute wie möglich dazu zu bringen, die eigene Verblendung zu Teilen.

Nach dem Tod seiner Frau, findet er in Faunia Farley eine 34 Jährige Analphabetin eine Geliebte und verbündete. Delphine Roux, eine aus Frankreich geflohene junge Akademikerin ist eifersüchtig auf diese offensichtlich ungleiche Liaison zwischen dem intellektuellem alten Mann und der Putzkraft. Auch ihr Innenleben wird en detail in Der menschliche Makel beschrieben, die Flucht von der eigenen Familie und der Übermutter. Wir lernen Les Farley kennen, den gewalttätige Ex-Mann von Faunia, seine Vietnamerfahrung, seine Traumata und inneren Kämpfe sind Teil des Romans. Aber hauptsächlich geht es um Coleman, um den Mann der der sich wegen der dunklen Gestalten (spook) ungerecht behandelt sieht.

Wer sind diese beiden grundverschiedenen Menschen, die sich mit Einundsiebzig und Vierunddreißig gefunden haben, obwohl sie gar nicht zueinander passen. Sie sind füreinader das Unheil, dem sie unterworfen sind. Zu den Klängen von Tommy Dorsey Band und dem schmachtenden Gesang des jungen Sinatra tanzen sie splitternakt genau auf deinen gewaltsamen Tod zu. Jeder Mensch begegnet seinem Ende anders, und diese beiden führen es so herbei. Sie können jetzt nicht mehr rechtzeitig aufhören. Die Sache ist entschieden.

Das Konzert

Der rund Vierhundertseitenstarke Roman, hat nicht die eine Hauptfigur die permanent im Vordergrund ist, sondern die Figuren die Roth erschafft, stehen mal mehr mal weniger stark im Blickpunkt. Meistens werden wichtige Personen nach einer zunächst oberflächlichen Einführung im späteren Handlungsverlauf dezidierter beschrieben. Wenn zum Beispiel Les Farley dem Leser zunächst als irrer und gewaltbereiter von Eifersucht getriebener Ex-Mann präsentiert wird. Einige Kapitel später, sein Wesen und Charakter viel mehr Konturen bekommt. Den Tod seiner Kinder, die posttraumatischen Belastungsstörungen die er und seine Kameraden aus Vietnam mitgenommen haben. Seit mehr als 25 Jahren schleppt der Mann sein Trauma mit sich herum. Les, für den das Löffeln einer Wonton-Suppe die Rückkehr in den Dschungelkampf bedeutet. Seine Nerven sind auf höchste angespannt und die ihm pure Todesgefahr signalisieren. Es sind vier Männer vom Veteranenklub nötig, die seiner und der allgemeinen Sicherheit wegen ihn in das Chinarestaurant begleiten. Er brauchte fünf Anläufe bis er sich zu den Gott verdammten Glückskesen durchkämpfen konnte. Frieden findet er beim Eisangeln. Von dem Wahnsinn von dem Nathan Zuckermann ausging, war in dem Gespräch, auf dem zugefrorenen See nicht zu merken.

Auf diese Weise schwingt im Hintergrund immer amerikanische Geschichte mit. Sei es wie der erwähnte Vietnamkrieg oder wie in den ersten Kapiteln, der Lippengriff einer Praktikantin, der 1998 zu ein Amtsenthebungsverfahrens des Präsidenten führte. So schreibt Philip Roth mehre Sachebenen in seinen Roman hinein. Formal wechselt er häufiger den Erzähler aus. Zwar überstrahlt der Metaerzähler Nathan Zuckermann alle anderen Erzähler, aber es sind verschiedene Perspektiven die Roths Erzähler einnimmt, mal ist es die von Coleman dann wieder die Faunias und andere Protagonisten. Es gibt zahlreiche Überraschungen, welche das sind möchte ich hier nicht sagen und nicht spoilern. Herausragend dabei ist, das es meist ohne Brüche geht. Ein fließender Übergang von einem Blickwinkel zum anderen.

Die Rahmenbedingen werden sehr früh in der Erzählung gesetzt. Der Handlungszeitraum beginnt 1927 und endet circa 2000 (Erstveröffentlichung). Die Ostküste der USA um Jersey und Newark herum sind der primäre Handlungsort. Nathan Zuckermann, als Alter Ego von Philip Roth, ist aus vorherigen Romanen übernommen. An der Stelle möchte ich bekennen das dies neben Nemesis von 2010 erst mein zweiter Roman von Philip Roth ist den ich gelesen habe.

Die Interpretation

Was ist Wahr, was ist Vorurteil und was ist Wahrheit? Und vor allem für, wen gilt welche Wahrheit? Das sind Fragen die Der menschliche Makel aufwirft. Und in der Beantwortung dieser Frage, es dann doch nicht so einfach ist mit der Wahrheit. Die Antwort der Frage, sich nicht in Schwarz oder Weiß, in Gut oder Böse einordnen lässt.

Der Roman lebt von den Zwischenzeiten, in denen die Handlung stattfindet. Die Extreme sind entweder noch sichtbar oder man sieht sie gerade aufkommen, haben sich aber noch nicht Manifestiert. So ist z.B. ist das Internet schon vorhanden aber es gehört noch nicht zur Allgegenwart. Die Internetgiganten sind noch weit weg. Das Bedürfnis nach Eindeutigkeit das sich im Drama um die dunklen Gestalten spinnt, ist eine Vorwegnahme des Phänomen das sich heutzutage in der echten Welt als Identitäspolitik beschreiben lässt. Ein Phänomen das oft mehr wegen ihrer Selbstgefälligkeit ihrer Protagonisten auffällt, als inhaltlicher Auseinandersetzung. Diese unerbittliche und ungerechtfertigte Anschuldigung, die sich im Athena Collage gegen den Professor richteten, findet heutzutage auf diese Art und Weise, laut Erzählung, zu hunderten an amerikanischen Universitäten statt. Wo, getrieben vom Zwang zur Eindeutigkeit, der durch die Tech-Konzerne und Sozialen Netzwerke befeuert wird und vom durchdringenden Neoliberalismus der die Menschen vereinzelt und zum selbstverliebten Idioten macht, dort wird der Universitätcampus zum Marktplatz der Eitelkeiten auf dem es kein Platz für Stille, Demut, Rücksicht gibt, aber vor allem zum Unvermögen führt Vieldeutigkeiten auszuhalten.

Die Inhalte die Roth im Jahr 2000 in literarischer Form veröffentlicht, finden sich gut 15 Jahre später in zahlreichen Publikationen wieder wie z.B. in Bung-Chul Hans Essay „Die Austreibung des Anderen“ von 2016. Neben dem Phänomen das man den Anderen nicht mehr Ertragen kann, verliert sich meiner Meinung nach sich der Sinn für Geschichte. Das Internet ist ein Zeitphänomen. Im Internet gibt es nur Gegenwart. Keine Vergangenheit, keine Zukunft und keine Historie. Die Seminarteilnehmer die den Professor Rassismus vorwerfen, sind nicht in der Lage zu Reflektieren und anzuerkennen das es die Wahrheit nicht Schwarz nicht Weiß ist.

Es wird spekuliert was zum menschlichen Makel im rothschen Sinne führt. Einige Rezensenten meinen, ihr Geheimnis, das der Protagonisten sei der Makel. Ich schätze allerdings, das Blindheit gegenüber Komplexität, der Mangel an Demut, und der Egoismus der Menschen, gemeint ist. Nicht einmal Fünfe gerade sein lassen zu können, das denke ich, ist der menschliche Makel über den Philip Roth geschrieben hat.

Roths Sprache ist äußerst elegant und dennoch präzise. Ein großer Stilist. In Der menschliche Makel beeindruckt er auch durch seine Fähigkeit inhaltliche Übergange ohne Brüche zu gestalten und erzählerische Perspektiven mit ungeheurer Leichtigkeit zu wechseln – Alles ist im Fluss und weiß doch immer wo man sich befindet. Darüber hinaus besticht er durch hohe innere Logik die auch im Kontext der amerikanischen Geschichtsschreibung schlüssig ist.

Fazit:
Der menschliche Makel ist ein Roman, der die Leser, 20 Jahre nach der Erstveröffentlichung erkennen lässt, wie Roth den Pfad in das 21. Jahrhundert vorgezeichnet hat. Der Text lässt sich auf verschiedenen literarischen Ebenen lesen zeugt von intellektueller Exzellenz und sprachlicher Brillanz. Ein großer Wurf, Weltliteratur.


Philip Milton Roth, ✴19. März 1933, ✝22. Mai 2018, war ein amerikanischer Schriftsteller. Seine Romane, Erzählungen und Essays wurden vielfach ausgezeichnet und brachten ihm den Ruf eines bedeutenden Romanciers der Gegenwart ein, der in der Öffentlichkeit viele Jahre als Kandidat für den Nobelpreis für Literatur gehandelt wurde.
Quelle: Wikipedia


Fakten:
Autor: Philip Roth
Titel: Der menschliche Makel
Seiten: ca. 400
Verlag: Hanser Verlag
VÖ-Jahr: 2000 ENG, / vorliegende Neuübersetzung, 2018, 16€
Übersetzung: Dirk van Gunsteren