Als der Zug zum stehen kam ...
so haben schon viele Geschichten angefangen. Mit dem Zug also erreicht Tom Birkin, bei regnerischem Wetter den Bahnhof der entlegenen Ortschaft Oxgodby, in der Grafschaft Yorkshire, in Nordengland. Es ist Frühsommer des Jahres 1920. Tom Birkin, häufig einfach nur Mr. Birkin genannt, hat von der ansässigen Kirchengemeinde den Auftrag angenommen ein kürzlich wiederentdecktes Deckenfresko freizulegen und zu restaurieren.
Gleich nach seiner Ankunft im beschaulichen Oxgodby geht er zu der kleinen dreischiffigen Kirche um einen ersten Blick auf das Deckengemälde zu werfen. Die einbrechende Dunkelheit unterbindet eine genauere Betrachtung. Zügig bezieht er im Dämmerlicht die kleine Dachkammer der Kirche, rollt seinen Schlafsack aus um sich am nächsten Tag frisch ans Werk zu machen. Schon nach der ersten Nacht spührt Mr. Birkin, der Gesichtszuckungen vom Krieg mitgenommen hat, eine Veränderung.
In dieser Nacht schlief ich zum ersten Mal seit vielen Monaten wie ein Toter und erwachte früh am nächsten Morgen. In der Tat schlief ich auch in all meinen folgenden Oxgodby-Nächten kaum länger als bis zur Morgendämmerung. Die Arbeit war ermüdend – ich war fast den ganzen Tag auf den Beinen, aß oftmals sogar im Stehen -, und nachts gab es dort oben auf meinem Dachboden hoch über den Wiesen und Feldern und fern der Straße, zu weit entfernt, als das Stimmen zu hören gewesen wären, nichts was mich störte.1
Die kürzlich verstorbene Mrs. Adalaide Hebron hatte der Kirchengemeinde ein beträchtliches Vermögen hinterlassen. Die 1000 Pfund, jedoch würden erst ausgezahlt werden, wenn das Fresko in neuem Glanz erstrahlt. Mr. Charles Moon, er wurde beauftragt die vergrabenen Gebeine von Mrs. Hebrons Vorfahren zu finden. Sie wurden im grauen Mittelalter exkommuniziert und nach ihrem Tot irgendwo hier vergraben. Sie zu finden und die sterblichen Überreste vom Felde auf den Friedhof umzubetten, damit war er anvertraut. Erst wenn die beiden Bedingungen erfüllt sind würde das Testament vollstreckt werden und die Gemeinde in den Genuss des Geldsegen kommen. Der hochgewachsene Reverand Keach hat die Arbeiten in Auftrag gegeben. Seine sehr junge aufgeweckte Frau schien gar nicht zu dem sehr viel älternen strengen Mann zu passen. 19 Jahre, frech, fröhlich und klug, mit kimbrischem Haar und listigen Sommersprossen erschien sie ihm. Auch in Sommernachtsträumen dachte Birkin an dieses Mädchen. Seine Frau, Vinny in London, die Beziehung, durchlebte Trennungen und Versöhnungen - manchmal denk er doch an sie. Auf dem Land ist das alles ganz fern und friedlich.
Mr. Birkin verstand sich gut mit dem kauzigen Charles Moon, auch er war in Frankreich. Auch er hat so manch Trauma aus den Schützengräben mit nach Hause genommen. Unter seinen Grabungzelt träumt er ruhig vor sich hin, träumt von orientalischen Grabungen und Entdeckungen. So verstehen sich die beiden Veteranen trotz ihrer sonderlichen Eigenarten auf Anhieb und erkennen die tiefen seelischen Verwundungen des anderen, die in Oxgodby langsam heilen zu beginnen.
Ach kommen Sie, sagte er, Mir können Sie nicht erzählen, Sie hätten dieses Zucken auf der Reise mit der North-Eastern Railway gekriegt, also können wir ebenso gut gleich damit beginnen, Geschichten über diesen verfluchten Ort des Grauens auszutauschen, an dem wir beide waren. Also kommen Sie und trinken Sie einen Becher Tee mit mir. Der Himmel weiß, dass wir uns beide mehr als einmal gefragt haben, ob wir je wieder die Gelegenheit dazu haben würden. Außerdem sind jetzt sie an der Reihe, mir Ihren Auftrag zu erzählen!2
von der Seelenruhe
In der kleinen Ortschaft Oxgodby ist Mr. Birkin, ein Künstler, ein echter Künstler, eine Rarität. Die Menschen mögen ihn sofort. Besonders die Familie Ellerbeck ist von dem neuen ihn ihrer Mitte, wohl angetan. Die 14-jahrige Kathy Ellerbeck besucht ihn beinahe täglich und fragt wie es mit dem Bild vorangehe. Sie ist klug, gewitzt und uneitel. Mit etwas Schulbildung könnte sie eine gute Anstellung in einem Londoner Haushalt finden, so Mr. Birkin. Er nimmt die Einladung der Ellerbecks zum Abendessen an, wird Teil der Dorfgemeinschaft. Dabei wurde er schon am Tag seiner Ankunft in die Dorfgemeinschaft aufgenommen und Teil der ihren, nur gemerkt hat Mr. Birkin es nichts. Charles Moon indessen durchsucht weiter das Feld vor der Kirche, findet alte Tonscherben, dies und das, dabei weiß er schon längst wo er die Gebeine der Vorfahren von Mrs. Hebron finden wird. Lieber aber, sucht er die sommerliche Stille bei der Arbeit, trinkt ab und zu einen Tee. Wechselt hin und wieder einige Worte mit Mr. Birkin, macht weiter - auf das ihm die Schreckgespenster des Krieges, der Schützengräben aus dem Kopf gehen. Auch Mr. Birkin arbeitet fleißig an dem Deckenbild. Keine schlichten Abbildung der Heiligen, wie er zunächst dachte. Die Figuren sind nicht aus dem Katalog gemalt, ein echter Künstler war einst vor hunderten Jahren in dieser abgeschiedenen Kapelle am Werk. Bedächtig arbeitet er am Heiligenbild. Schicht um Schicht Russ trägt Mr. Birkin ab, bis unten endlich ein grün schimmernder Mantel oder ein nackter Fuß des heiligen St. Markus zum Vorschein kommen. Das schöne Wetter steht stabil über Oxgodby. Der warme Sommerwind geht leicht über die Felder und wiegt die Ähren rhythmisch im Wind.
Ein Monat auf dem Land, eine etwas irreführende Bezeichnung, denn für einen ganzen Sommer ist der Held in Oxgodby. Diese Ortschaft mit seinen Bewohnern ist so ganz anders als London. Hier gibt es kein Stress, keine Luftverschmutzung, kein weltpolitisches Geschehen. Dort kann Tom Birkin, neu durchatmen, neuen Lebensmut finden, seine Liebe zu Vinny neu begreifen. Schicht um Schicht wird nicht nur das Deckengemälde vom Dreck alter Zeit, auch die Seele des Tom Birkin, wird vom Schmutz vergangener Tage befreit – Stück für Stück.
Nach über 60 Jahren schreibt John L. Carr seine Erinnerungen an ein längst vergangenes England auf. Er spiegelt es in einem romantisch-verklärten Oxgodby wieder. Wo er die gute alte Zeit noch mal aufleben lässt. Dabei gelingt es Carr das diese Novelle nie kitschig wird, nie langweilig oder belanglos, gleichgütig rüber kommt. Unter der leicht melancholischen Grundstimmung verbirgt sich schon gut erkennbar die lebensbejahende Hoffnung, die in jedem Dialog mitschwingt, die grundguten Figuren. Ein Stück heile Welt. Die Arbeit am Deckenfresko wird zu großen Parabel.
Fazit::
Oxgodby ein englisches Bullerbü für Erwachsene, für gestresste Großstadtgeister. Die Novelle ist klug und sanft, in schöner Sprache geschrieben. Romantisch ja, kitschig nein. Beste Urlaubsliteratur, einfach zeitlos.
Joseph Lloyd Carr wurde 1912 in Carlton Miniott in North Yorkshire geboren. Ein Monat auf dem Land (A Month in the Country) erhielt 1980 den Guardian First Book Award und wurde 1987 verfilmt.3
Fakten: | ||
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Autor: | Joseph Lloyd Carr | |
Titel: | Ein Monat auf dem Land | |
Seiten: | 157 | |
Verlag: | dumont-Verlag | |
Übersetzung: | Monika Köpfer | |
VÖ-Jahr: | 2016 | |
EV-Jahr: | 1980 |