Nach der Veröffentlichung von Data Love (2014) wagt sich Simanowski an die Facebook-Gesellschaft. Facebook ist das dominierende digtale soziale Netzwerk der Gegenwart. Laut eigener Aussage, nutzen ca 1,59 Milliarden Menschen diese Plattform mindestens ein mal im Monat. Die Mehrzahl der Nutzer, nämlich 1,04 Mrd. Menschen sind täglich auf Facebook unterwegs. Simanowski nimmt daher das Lemma Facebook als typologische Beschreibung der auftretenden Phänomene, die die meisten großen digitalen sozialen Netzwerke betreffen.1
In drei großen Kapiteln (Fremde Freunde, Automatische Autobiografie, Digitale Nation) mit jeweils vier Unterkapiteln geht er seinen drei Grundthesen nach. Diese drei Grundthesen dienen Simanowski als Leitfaden für die Auseinandersetzung mit der Facebook-Gesellschaft:
Erstens:
Hinter dem Narzissmus rastloser Facebook-Nutzer steckt die Angst vor dem eigenen Erleben, das durch die jeweilige Mitteilung des Augenblicks an die Netzwerkgemeinde delegiert wird.Zweitens:
Facebook generiert diesseits narrative Reflexion mehr oder weniger automatisiert eine episodische Autobiografie, deren eigentliche Erzähler das Netzwerk und die Algorithmen sind.Drittens:
Soziale Netzwerke bilden im Rahmen ihrer Oberflächenkommunikation zwar eine gewisse Gemeinschaft jenseits politischer und kultureller Differenzen, entwickelt dabei aber kein Toleranzmodell, das vor der Rückkehr totalitärer Sinngebungsgeschichten schützt.2
falsche Freunde
Im ersten Kapitel Fremde Freunde stellt Simanowski historische Freundschaften vor. So zum Beispiel geht er auf Schillers Ballade Die Bürgschaft oder sein Gedicht Die Freundschaft ein. Wo es heißt: Glücklich! glücklich! dich hab ich gefunden aus Millionen mein bist du. Die false friends (falsche Freunde) der Facebook-Gesellschaft stellt er als Kontrapunkt zu den historisch beschrieben Freundschaften dar. – Gekaufte Facebookfreunde, bezahlte likes.
Die permanente Selbstdarstellung die zum Wesen digitaler sozialer Netzwerke gehört wird zum Lebenselixier einer hedonistischen postmodernen Gesellschaft. Simanowski erklärt seine Theorie u.a. mit Bloom der Hauptfigur in James Joyces Roman Ulysses, der sich als wurzelloser Mensch jedweder Seinspflicht entzieht und sich rein dem Spektakel hin gibt.
Jahresrückblick – I like
Im zweiten Kapitel Automatische Autobiografie macht Simanowski einen bemerkenswerten Vergleich wenn er Siegfried Kracauers Theorie über die Fotografie mit der Erscheinungsform des Facebookzeitstrahl in Übereinklang bringt. Simanowski stellt in diesen Kapitel die narrative Erzählform und die phatische Kommunikation gegenüber. Er beschreibt eine deutliche Kritik, daß bei Facebook & Co kein Platz ist für das Narrative.
Es ist offenkundig, dass die Protokolle der Selbstbeschreibung mit ihren tabellarischen Abfragen keine narrativen Kompetenzen fordern oder fördern, sondern zunächst nur verlangten, vorgegebene Fragen (Ausbildung, Arbeitsplätze, Wohnorte, Familienbeziehungen, Lieblingszitate und ‚ein paar Details über dich selbst‘) zu beantworten. Die Selbstbeschreibung untersteht der Autorität des vorgefundenen Formulars und den darin enthaltenen Vorstellungen darüber, was Identität ausmacht. 3
Facebook hat die Formularfelder so gestaltet das die Einträge effektiv maschinenlesebar und auswertbar sind. Hintergründig gibt es jedoch noch mindestens eine weitere Zielsetzungen die das zuckerbergsche Habitat, damit verfolgt, z.B. das Ende der Erzählung. Das Ende von Vergangenheit und Zukunft. Das Ende von Reflektion und Vision. Facebook fragt nicht nach dem Warum, Wieso, Weshalb. Facebook will nur wissen, was ist JETZT. Die Facebook-Timeline ist der Erzählstrang, den nicht die User zusammenstellen, sondern im Back-End erzeugt wird. Für jeden User einzeln schickt Facebook, die entsprechenden Datenbankanfragen raus. Das rechenintensive zusammensetzen im Browser überlässt Facebook seinen Usern via Javascript.
Das zuckerbergsche Kontinuum verneint jede Korrelation, es gibt nur das jetzt und hier. Für Simanowski gilt es als bewiesen, das Internetfirmen wie Facebook kein Interesse daran haben das sich Menschen erinnern, sondern nur noch erleben. Das spiegelt sich in dem gewollten Umstand wieder das es im Frontend keine Verlinkung, keine Hyperlinks innerhalb der Timelines gibt. Einzelne Postings in Relation zusetzen ist unmöglich. Hat schon mal jemand einen ‚verlorenen‘ Beitrag wiedergefunden? Das System ist bewusst von Facebook so eingerichtet. Im Back-End wird Facebook zahllose Features haben, Relationen von Postings, Personen, Eigenschaften, Ereignissen auszuwerten und Korrelation zu setzen, wie Simanowski im Kapitel Datenbank und mechanischer Erzähler schreibt. Facebook ist auf phatische Kommunikation ausgelegt.
Das Interface hemmt das zusammenhängende Erzählen, indem es keine interne Verlinkung zwischen Ereignissen der eigenen Facbook-Seite vorsieht oder zulässt. Dieses Manko erstaunt, gehört der Link doch zur technischen Grundausstattung des Internets und das Verbinden zum Philosophischen Selbstverständnis von Facebook. Andererseits überrascht es nicht wirklich, dass Facebook am Font-End des Interface keine narrativen Aktivitäten fördert, wenn das zentrale Ziel der Mitteilungen die Datenanalyse am Back-End ist. 4
Wer schreibt Geschichte?
Im letzten Kapitel Digitale Nation steigt er noch tiefer in das Thema Gedächtnis der Medien ein. Er macht dabei die Ungleichung von Archivierung und Erinnern auf. Wenn das Erinnern statt das Vergessen zur Leerstelle des Internets wird, gibt der Autor einen wichtigen Hinweis über die Phänomenologie des Internets. Simanowksie spricht von Erinnerungsdarwinismus.
Den digitalen Medien ist ein ‚Erinnerungsdarwinismus‘ eingeschrieben, wonach nur das, was ständig aufgerufen wird (und so fortwährend seine Bedeutsamkeit nachweist), innerhalb des Speicherraums verbleibt (wenn es jeweils ins aktuelle Format überführt wird). Das Problem, un das es hier geht, ist nicht die Veralterung von Soft- und Hardware, sondern die ungesicherte Ordnung des Mediums, die damit beginnt, dass jeder, der Zugang zum Server besitzt oder sich verschafft, das gespeicherte Material manipulieren kann. 5
Eine konstituierte und konstruierte Gesellschaft wie die unsrige, bezieht ihren Eigensinn aus ihrer Historie. Ihr vermögen sich zu Erinnern und Reflexion mehr noch Rezeption auf vergangenes, ist es worauf sich eine Nation beruft. Die digitale Nation braucht keine Erinnerung. Ihr genügt das Sein. Als passionsloses Gedächtnis gibt es allerdings auch kein strategisches Vergessen mehr. Aussöhnung, was nichts anderes ist als bewusstes Verdrängen, wird unter einstigen Feinden unmöglich.
Fazit:
Simanowski legt kaum persönliche Wertung in seine philosophische Abhandlung rein. Was ist Gut und was ist Böse? Dies zu Beantworten ist nicht sein Ziel. In Facebook-Gesellschaft hinterlässt er jedoch so viele Eindrücke, Beispiele und Diskussionsstoffe, das der aufmerksame Leser die drei o.g. Arbeitsthesen für sich beantworten kann. Was die Facebook-Gesellschaft von anderen Büchern unterscheidet ist das es nicht dystopische Bilder produziert, sondern die neue Kulturtechnik neben die althergebrachten Kulturtechniken stellt und vergleicht. Facebook-Gesellschaft ist vom Ton eher neutral fast schon trocken geschrieben. Nicht immer kann man den Gedanken und Perspektivwechsel auf Anhieb folgen. Dennoch lohnt es sich Facebook-Gesellschaft von vorne bis hinten zu lesen. Die 238 Fußnoten und Quellenangaben helfen die Abhandlung besser zu verstehen.
Eine Frage lässt sich allerdings nicht Beantworten, was war zu erst da? Das Bedürfnis nach einer Facebook-Gesellschaft oder Facebook. Vielleicht kommt man der Beantwortung dieser Frage im dritten Band näher.
Roberto Simanowski ist 1963 geboren und ist deutscher Literatur- und Medienwissenschaftler. Nach Lehrtätigkeiten an der Brown University in Providence, Rhode Island von 2003 – 2010 und danach bis 2013 an der Universität Basel, ist er seit 2014 als Professor an der School of Creative Media der City University of Hong Kong in China tätig.
Fakten: | ||
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Autor: | Roberto Simanowski | |
Titel: | Facebook-Gesellschaft | |
Seiten: | 238 | |
Verlag: | Matthes & Seitz | |
Vö-Jahr: | 2016 |