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Gewinner des Deutschen Buchpreis (2019)

Saša Stanišić: Herkunft

Saša Stanišić Sehnsuchtsroman Herkunft thematisiert die Phänomene Herkunft und Identität auf nie dagewesener Art und Weise. Herkunft ist der vierte Roman des 1978 geboren Schriftstellers.

von René Buchfink

Die Erzählung beginnt wie Saša versucht die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen. Jahr 2008, das ganze liegt gut 10 Jahre zurück. So soll er vor der Ausländerbehörde begründen und offen legen wo er herkommt und vor allem was er so gemacht habe um sich für die deutsche Staatsbürgerschaft zu qualifizieren. Ein tabellarischer Lebenslauf schien ihm die höchste Form des Beweises zu sein den Bundesadler im Pass tragen zu dürfen. In der Tabellenform aber findet sich kein Platz für seine feurige Leidenschaft zum HSV oder wie er zum Studium der Slavisitk gekommen ist und wie das Leben als Schriftsteller ist. So wurde aus der geordneten Liste ein biografisches Prosawerk dessen Erzählung in Oskoruŝa beginnt.

Reigen tanzen

Die Besuche bei seiner Großmutter Kristina in Oskorusa, bilden das Zentrum des Romans. Auch ihr Leben bildet Saša in groben Zügen nach. Er erzählt von ihrer Jugend, von der Drina, den Stromschnellen, den Deutschen Soldaten, bis hin zu ihren letzten Lebensjahren wo sie unter Demenz litt, die ihre letzten Lebensjahre bestimmte, pflegebedürftig und immer auf der suche nach ihrem geliebten aber schon länger verstorbenen Mann Pero.

Jugoslawien, das Land seiner Kindheit zerbrach. Das Land Titos, das der Olympischen Winterspiele 1984 in Sarajevo. Von Roter Stern Belgrad, dem Finale, gegen Atlético Madrid im Europapokal der Pokalsieger 1986 ist die liebe zum Fußball geblieben. Das Land seiner Kindheit gibt es nicht mehr.

Der Kitt der multiethnischen Idee hielt dem zersetzenden Potenzial des Nationalismen nicht mehr stand. Tito als die wichtigste Erzählstimme des jugoslawischen Einheitsplots war nicht zu ersetzen. […] Die neuen Erzähler hießen Milosevic, Izetbegovic, Tudman. Sie gingen auf eine lange Lesereise zu ihrem Volk.“ (s. 98)

Ein Polizist der seiner muslimischen Mutter freundlich gesinnt war, rat ihr dringend zur Flucht. Visegrad wurde im Bosnienkrieg von bosnisch-serbischen Truppen besetzt. Zuerst floh seine Mutter mit ihm nach Mannheim zu einem Onkel. Später folgte der Vater. Er kam in die Internationale Gesamtschule Heidelberg.

Aral-Tankstelle

Der 14 Jährige Saša lernte eine Sprache, die einen Kern hatte, hart wie der einer Pflaume., schreibt Stanišić heute und „ziehen!“ war das erste Wort das er konnte. Es stand an der Schultür. Das Wohnviertel, Emmersgrund, war voller Immigranten und Flüchtlinge. Sie kamen von überall her. Bosnier, Serben, Türken, Griechen, Italiener, Russlanddeutsche, Polendeutsche. Niemand sprach gutes Deutsch. Die Jugendlichen trafen sich an der Aral-Tankstelle. Die Tankstelle war „Heidelbergs innere Schweiz“ neutraler Grund. Hier musste sich niemand rechtfertigen. Keine Geschichten ausdenken, keine Traumata erklären und deuten. Kein Geographielehrer.

„Er (der Geographielehrer) fragt Pekka, was die Hauptstadt seines Heimatlandes sei, und Pekka sagt: „Stuttgart“ Der Geographielehrer sagt: „sehr Lustig.“ Alle lachen, sogar die Traumatisierten. Der Geographielehrer fragt mich, was die Hauptstadt meines Heimatlandes sei, und ich sage: „Belgrad und Sarajevo und Berlin.““

Die Antwort, ganz einfach, Belgrad, Sarajevo, Berlin, diese drei Namen zeigen die Hilflosigkeit auf, die ein aus der Heimat vertriebenes Kind hat. Der humorige Beiklang den der Teenager Saša dem gibt, steht der naiven Frage des Lehrer gegenüber. Humor, das schwere leicht nehmen versuchen sie, die Kinder von der Aral-Tankstelle.

Die Eltern hatten es schwer. Vater arbeitete auf Montage in Ostdeutschland auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Auch ein Land das es nicht mehr gibt. Eine Brigade aus Ex-Jugos waren sie die für BASF in Schwarzheide durch die Rohre krochen, neuverlegten, saubermachten, schweißten. Die Mutter war in Jugoslawien mit fünfunddreißig Jahren, Dozentin für Marxismus an der Hochschule. Sie wurde aus ihrem glücklichen Leben gerissen. Nun jobbte nun sie rum. Mutter und Vater blieben unglücklich im wiedervereinigten Deutschland. Das Glück das Saša hatte, hatten sie nie finden können. Ihre Aufenthaltsgenehmigung wurde eh, nicht verlängert. Er blieb, sie gingen weiter in die USA wo sie glücklicher waren. Auch die Schwester ging fort. Die Familie driftet auseinander. – Oskoruŝa – Ein Dorf, in dem nur noch dreizehn Menschen leben. Die dreizehn haben sich dort niemals fremd gefühlt, glaube ich, gibt es einen Friedhof.

Während es am 24. August 1992 in Heidelberg regnetet wurde in Bosnien geschossen und jagt auf Muslime gemacht. In Rostock Lichtenhagen brannten Ausländerwohnheime. Der 14 Jährige Saša lernte in Heidelberg Deutsch, weil mit seiner muslimischen Mutter aus Visagrad fliehen musste. Der tot drohte. 27. August 2018, in Chemnitz kommt es zu einem Schulterschluss zwischen Neonazi und AfD. Der Moment wo Saša Entschließt Herkunft zu schreiben.

Was bleibt übrig für einen liberalen und gebildeten Menschen, wenn rechtsextreme Gruppen wie die Identitäre Bewegung den Identätsbegriff für sich vereinnahmen, es von rechter Seite laut proklamiert wird das die „Heimat“ klar und deutlich zu benennen sei, die Zugehörigkeit zu einem Volk durch Geburt festgelegt ist? Ein anschreiben gegen die Engstirnigkeit und rohe Dummheit der Rechten. Gegen das auflodern eines Europa der Vaterländer.

Stanišić Werk ist eine solche Gegenrede. Eine Fürrede für eine offene und liberale Gesellschaft. Mit seiner biografischen Erzählung, die sicher keine Autobiografie ist aber biografische Elemente enthält, stemmt er sich gegen das völkische denken und jeden Nationalismus. Die größte Überraschung lag allerdings in der Frage – Wie geht man um, mit einem Land das es nicht mehr gibt? Das sich der Gedankengang und die Frage nicht nur auf das ehemalige Jugoslawien beziehen kann sondern auch auf die ehemalige Deutsche Demokratische Republik überraschte mich. Das sich Heimat, Herkunft, Verlust, Neuanfang auch auf DDR übertragen lässt, mit all den zahllosen Schicksalen und Eigenarten, damit habe ich nicht gerechnet.

Dieser Roman hat den Deutschen Buchpreis des Börsenverein des Deutschen Buchhandels gewonnen. Die meisten Literaturkritiker sind vollen Lobes für dieses Buch das in Inhalt und Form, formidable ist. Die unglaubliche Bereicherung unser Gegenwartsliteratur durch Zuwanderung manifestiert sich in solchen Büchern, so Dennis Scheck auf der Leipziger Buchmesse 2019. Elke Heidenreich bescheinigt der Erzählung eine unerwartete Leichtigkeit. Sie sagt über Saša Stanišić Herkunft, das er sich durch das Buch nicht zum Kurator der Wahrheit macht, sondern zum Kurator der Wirklichkeit. (SWR-Literaturklub 12.01.19)

Herkunft glänzt durch Witz und durch vielerlei Perspektiven die Stanišić darstellt. Diese Perspektiven legt er wie glänzende Bruchstücke einer geborstenen Kristallvase auf unser Lesepult. Diese glänzenden Fragmente sind geformt aus persönlichen Erinnerungen, Familienerzählungen, Trugbildern und historischen Ereignissen. Teils scharfen Kanten, teils verschwommenen, und mit vielen Leerstellen von für immer verlorenes oder unbeschreiblichen. So breitet Stanišić seine Geschichte vor uns aus. Die Erzählung folgt keiner strengen Chronologie. Episodenhaft, teils mit kurzen Anekdoten nimmt der Roman Form an.
– Herkunft? Eine Antwort was es denn nun sein soll dieses Herkunft, bekommen wir nicht – eher sowas wie ein Gefühl, was es ist, was es sein könnte und was es nicht ist. Im ganzen grandios.

Fakten: Ein Junge mit Türkenhut Füttert kleines Nashorn
Bild: Buchcover, "Herkunft"
Autor: Saša Stanišić
Titel: Herkunft
Seiten: 360
Verlag: Luchterhand
VÖ-Jahr: 2019