Im Zentrum des Roman stehen zwei Frauen. Therese ist 23 Jahre alt und Lenka 46 Jahre alt. Diese ungleichen Frauen treffen sich zufällig in St. Petersburg. Die jüngere von beiden ist auf einem mehrwöchigen Sprachkurs um russisch zu lernen und Lenka, eigentlich Jelena Belenkaja, ist im ehemaligen Leningrad auf einer Fachtagung für Astrophysik. Sie hält dort einen Vortrag zur Modifikation des Faktor L* der Lebensdauer technologischer Zivilisationen bei Inklusion der Hypothese einer nichtorganischen Gestalt extraterrestischer Intelligenzen
. Therese kommt aus einem Ort bei Mannheim, Lenka kommt auch aus Deutschland. Sie hat allerdings einen Teil ihrer Kindheit in der Sowjetunion verbracht bevor sie mit ihren Eltern als Spätaussiedlerin nach Deutschland gezogen ist. Am Hafenkai der russischen Metropole treffen die beiden ungleichen Persönlichkeiten aufeinander.
Auf dem Rückweg von der Mole hört Therese schon aus der Ferne wieder das Radio, die drei alten Bekannten hocken in unveränderter Anordnung und auf der Bank hinter ihnen mit einem Buch dicht vor dem Gesicht: eine dürre Frau in schwarzer Klamotte. Sie sieht aus, als würde sie schon lange hier sitzen, wie sie da die Beine von sich streckt, in ihre Lektüre vertieft, dabei können es erst ein paar Minuten gewesen sein. Sie hat etwas von einem Vogel, einen Raben vielleicht. Therese geht langsamer. Wohin. Ans Wasser, zur Bank? […] Aber was spricht man mit einem mittelalten Raben, der womöglich nicht einmal Englisch kann.
[…]
Tschuldigung: Ich hab Feuer, haben Sie Filter?
Die Frau zieht einen Mundwinkel hoch und greift in die Jackentasche. Sie hält Therese eine Handvoll zerdrückter Filter hin, daran Tabakbrösel, anderes. Bedien dich.
Ein ganz zarter Akzent. Therese nimmt sich einen Filter und nestelt ein klebriges Zigarettenpapier aus der Packung. Der Flaum zwischen Ohr und Kiefergelenk der Frau ist für die dunklen Haare erstaunlich blond. Alles an ihr ist durch und durch mager, der Hals, die Beine, die Handgelenke, und etwas an ihr wirkt ein wenig heruntergekommen, obwohl sich nicht sagen lässt, woher dieser Eindruck kommt. Die schwarzverwaschene Kleidung ist sauber, die Haare sind nicht sonderlich unordentlich, aber irgenwas ist da trotzdem.
Therese fühlt sich von der Frau erotisch angezogen. Die dünne 46-jährige Astrophysikerin mit den leichten grauen Strähnchen scheint der Welt entrückt zu sein und ihren Kosmos gefunden zu haben, in dem sie glücklich ist. Die spontane Einladung mit nach Argentinien zu kommen kam für Therese jedenfalls überraschend. Ein paar Wochen später treffen sich die beiden am Flughafen in Argentinien wieder um von dort aus gemeinsam zum Azarcumbre zu fahren. Ein Berg auf dem außerirdische Raumschiffe gesichtet und gelandet sein sollen. Für Therese ist es Urlaub mit einer Reisekrankenversicherung, auch wenn sie es ihren fragenden Eltern als Recherchereise verkauft. Anfänglich sendet sie noch WhatsApp-Nachrichten an ihre wohlmeinenden Eltern ab, später stellt sie das tägliche Senden von Statusmeldungen ein.
Die beiden Frauen umkreisen sich wie ein Doppelsternsystem. Lenka ist sehr mager. Es ist kaum was dran an der Frau, flacher Bauch, flache Brüste, die Schlüsselbeine treten deutlich hervor – sie isst zu wenig. In einem Dorf am Fuße des Azarcumbre haben sie sich in einem Hostel einquartiert. Sie freunden sich mit Fabián an, der Klomann, Hausmeister und gleichzeitig Portier ist. Die Hauptprotagonistin Therese ist in vielen Bezügen unentschlossen, sie sucht ihren Platz in der Welt, einen Beruf der ihr Spaß macht und vor allem sucht sie so was wie echte Lebensfreude. Sie hat vieles ausprobiert, die Eltern haben ihr vieles ermöglicht – an Materiellen hat es nie gefehlt – für die Leichtathletik war sie begabt aber dann doch nicht gut genug, das Studium hat sie angefangen, wieder verworfen, flüchtige Affären mit Männern und Frauen. Therese muss auf der Suche nach dem Glück eine Enttäuschung nach der anderen hinnehmen. Bei der dürren und immer abwesend erscheinenden, in Gedanken versunkenen, im ihrem Notizbüchlein starrenden Lenka, war es ganz anders. Schon seit Kindertagen wusste sie, dass sie etwas mit dem Universum machen wollte. Doch so könnte es wohl auch zu lesen sein, ist ihr Blick in die Sterne Ausdruck von Flucht und unerfüllten Sehnsüchten. Aber sie spricht nicht darüber.
Obwohl Beide aus unterschiedlichen Milieus kommen und unterschiedlich sozialisiert worden sind, ziehen sich beide an, wie Magnete – und stoßen sich manchmal auch wieder ab. Was beide Persönlichkeiten, neben der subversiven Erotik, verbindet sind Erfahrungshorizonte die durch den 2. Weltkrieg geprägt sind. Die Schrecken und Traumata in ihren Familien, die bis ins dritte Glied ihre Spuren hinterlassen haben.
Rückblenden - Wie wir wurden wie wir sind
Die Ereignishorizonte sind als Rückblenden in den Roman eingebaut. Eva Raisig nutzt dabei erzählerische Perspektiven der Großmutter und Mutter um prägende Situationen darzustellen. Thereses Großmutter Lenchen wird als junge Frau in langen Passagen beschrieben, ihre traumatischen Erfahrungen die sie im 2. Weltkrieg durchmacht. Der Großvater bekam in den letzten Tagen eine Schusswunde am Oberarm und wurde erschossen, dabei war er doch im Widerstand sagt man sich untereinander. Raisigs fiktive Familie spiegelt eine scheinbar typische deutsche Mittelstandsfamilie wieder. Typisch dahingehend, dass über die eigene Geschichte geschwiegen wird, erfahrenes Leid, eigene Verstrickungen mit dem Naziregime, erfahrende Traumata verdrängt werden, es wird einfach nicht darüber gesprochen. Irgendwann landete die Familie, die aus den östlichen Gebieten vertrieben worden ist, bei Frankfurt am Main und kann den bundesrepublikanischen Traum vom Häuschen mit Vorgarten leben, die Schrecken verdrängen. Das Credo heißt nun 'Kinder sollen es einmal besser haben’. Und jetzt nach zwei Generationen Frieden und Wohlstand, weiß Therese nicht was sie hier überhaupt machen soll, warum sie auf der Welt ist. Von dieser Reise zum Sinn des Lebens handelt der Roman.
Einschätzungen
Ich finde die Kompression manchmal zu stark und unterbindet in meiner Wahrnehmung einen gleichmäßigen lesefluss. Die Raumsonde Voyager I spielt in Seltene Erde eine besondere Rolle und kann als Gegenspieler zu den beiden Erdbewohnerinnen, Therese und Lenka betrachtet werden. Im Roman hat die Voyager eine eigenständige Persönlichkeit. In langen Monologen entwickelt das Weltraumgefährt in den grenzenlosen Weiten des Weltraums eigenständige Gedanken und Perspektiven auf sich und die Welt. Was der Studienabbrecherin nicht gelingt und Lenka ahnt, gelingt dem Geist der Voyager. Die Auseinandersetzung mit dem Sein. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Ich. Während die Voyager gleichmäßig, schnell, lautlos gen Unendlichkeit rast, ist sie gleichermaßen emotional wankelmütig, nachdenklich und durchlebt zahlreiche unterschiedliche psychische Zustände. Die Voyager ist sinnbildlich der Hebel mit der 3. Planet unseres Sonnensystems aus den Angeln gehoben wird.
Die Sprache die Raisig in Seltene Erde aufzeigt ist auffallend direkt, verdichtet und schnörkellos. Was gesagt wird, wird nicht beschönigt oder verklausuliert: Wie z.B. in der Szene im Bus auf dem Weg vom Flughafen zum Azarcumbre. Es riecht nach ungeputzten Zähnen und ein bisschen nach Furz. Eines der Kinder hackt mit den Stiefelspitzen auf den Sitz ein und hört nicht auf zu maulen.
Diese unprätentiöse Sprache zieht sich durch fast das gesamte Buch.
Mit dem Bruch der Zeitachsen und dem augenzwinkernden Charakter der Voyager, hat Raisig von der Stilistik her einen Roman geschrieben der typisch für die neueste Deutsche Literatur ist. Als Kritik könnte man die unverblümte Sprache benennen, ist aber offenbar genau Raisigs Schreibstil. Weiter auffallend und ebenso direkt wie die Sprache kommt der Impetus des Roman rüber. Es geht in Seltene Erde um Sinnsuche. Wer wir sind? Wo kommen wir her, wohin gehen wir und was soll ich hier überhaupt? – Auf dem blauen Planeten. Wir schauen Therese und Lenka dabei zu wie sie sich diesen Fragen des Menschseins stellen oder eben auch nicht stellen. Das erzeugt durchaus eine Wechselwirkung mit den Lesenden. Was auch typisch ist für moderne Deutsche Literatur, es gibt keine klaren Antworten. Nach 368 Seiten ist man vielleicht ein bisschen schlauer, ist den Antworten vielleicht ein bisschen näher gekommen, aber der Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens ist man noch lange nicht nahe gekommen.
Lenka und Therese hoffen ein bisschen, dass die Hochebene des Azarcumbre nicht nur ein Landeplatz für Raumschiffe ist, sondern vielleicht auch ein Weltraumbahnhof der sie, statt wie der Bus ins nächste Dorf, weit weg von dieser Erde bringt, auf der sie sich unabhängig voneinander so fremd fühlen. Die Konstruktion der Geschichte und die innere Logik ist sehr gut. Die Figuren sind besonders gut und nachvollziehbar beschrieben, fast schon zu gut charakterisiert. Vor allem, dass man über Lenkas Innerlichkeit so wenig erfährt lässt sie ganz real erscheinen. Was mich zum größten Kritikpunkt an dem Roman kommen lässt. Alles liest sich ein bisschen zu dicht, zu nah an der Realität. Die Familienhistorien, die Physik, die Reise bis hin zum Azarcumbre, all das könnte wirklich so passiert sein. Von daher hat Seltene Erde auch etwas fotografieartiges, ein Abbild von Realität. Die traumhaften Sequenzen der Voyager sind als Gegengewicht wirklich nötig, ansonsten würde soetwas wie eine Metaebene oder ironische Brechung fehlen. Jedenfalls ist das Gedankenkarussel der Raumsonde gut für den Roman, und gut ist es auch, das diese Weltraumsequenzen in einem anderen sprachlichen Stil verfasst worden sind. Das lockert die Erzählung etwas auf.
Fazit:
Eva Raisig ist eine literarische Entdeckung und ihr Debütroman Seltene Erde ist ein ernstzunehmendes Werk der Gegenwartsliteratur. Ich freue mich auf weitere Romane und Erzählungen der Autorin.
Eva Raisig, 1984 in Frankfurt am Main geboren, hat Physik studiert und lebt als freie Autorin und Redakteurin in Berlin.
Für die Buchbesprechung hat mir der Verlag ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.
Fakten: | |||
---|---|---|---|
Autor: | Eva Raisig | ||
Titel: | Seltene Erde | ||
Seiten: | 368 | ||
Verlag: | Matthes & Seitz Berlin | ||
VÖ-Jahr: | 2022 | ||
Preis: | 24,00 € |