Denklatenz

Das Magazin

Ein Debutroman

Mariette Navarro – Über die See

Wer glaubt, daß die Menschen dem Meer jegliche Geheimnisse entzogen haben, dem wird mit der Reise durch dieses Buch eine Hoffnung gegeben, daß auf uns noch viele Überraschungen warten.

05. Dezember 2022

von René Buchfink

Buchcover. Offener Ocean in Hintergrund ein Frachtschiff am Horizont.
Buchcover, Über die See

Die Kapitänin hat keinen Namen. Auch der Rest der Menschen an Bord wird nur durch seine Funktion beschrieben. Wie schon ihr Vater, ist auch sie mit dem großen Patent ausgestattet und fährt auf den Weltmeeren die großen Containerschiffe. Über alle Ozeane, in allen Meeren des blauen Planeten ist sie schon gewesen. Ihr oberstes Gebot auf See ist es, die Fracht sicher, schnell und schnörkellos an ihr Ziel bringen. Nichts kann sie von ihrem Anspruch an Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit abbringen. Die Arbeit als Kapitänin ist für sie Routine und so sind auch die Überfahrten frei von jeglichem Abenteuer. Die Zeiten sind längst vorbei, als man sich aufs offene Meer begab Unvorhergesehenes passierte, gar Abenteuer auf den Ozeanen zu finden waren.

Auf dieser Strecke ist die Überfahrt unkompliziert, vor allem zu dieser Jahreszeit. Die Abenteuer gehören in die Bücher, die sie als Studentin gelesen hat, in die Geschichte, die sie an den Abenden an Land erinnert, wenn jemand sie dazu bewegen kann, etwas von sich zu erzählen. Die meisten Offiziere kennt sie seit der Ausbildung, sie verstehen sich fast ohne Worte. Sie ist die Tochter eines Kapitäns, und ein Leben an Land stand nie zur Debatte, von klein auf hat sie zu viel über Schiffe gelernt, als dass sie sich vom Meer hätte lossagen können. (S.10)

Ihre Crew hat sie so zusammen gestellt, dass unterschiedliche Charaktere an Bord sind. Das reduziert Reibereien unter der Mannschaft. Es sind alles Männer. Die Offiziere jedoch sind altbekannte Personen, denen sie voll und ganz vertraut. Zwanzig Männer sind an Bord, eine Frau. Ein Roman über eine Reise von Le Havre, (Frankreich) nach Guadeloupe in der Karibik. Das Buch beginnt mit dem biografischen Werdegang der Kapitänin und ihrem Verhältnis zum Vater. Früher war er selbst Kapitän. Von ihm hat sie sich längst emanzipiert. Navarro beschreibt welche emotionalen Bezüge, die Protagonistin zum offenen Ozean, der Natur, den Wellen den Wassermassen zwischen den Landmassen hat. Für sie, die Tochter eines Seefahrers war immer klar, dass die Seefahrt ihre Bestimmung ist. Man erfährt wie professionell und kompromisslos sie ihren Dienst angeht und wie sie mit Freude und mit Können dem Tagwerk nachgeht und das tut was eine Kapitänin eben zu tun hat. Ihr Aufgabenbereich geht vom Anheuern der Mannschaft, der Routenplanung, über bis hin zu Zollangelegenheiten und weiterem umfangreichen Papierkram, den sie bearbeiten muss. Das macht sie immer gewissenhaft und tadellos. Beweisen muss sie niemanden mehr etwas. Sie ist die unangefochtene Autorität auf allen Schiffen auf denen sie fährt und hat sich bei den Reedereien einen Namen gemacht. Sie wird immer wieder gebucht. Daß sie eine Frau ist spielt dabei keine Rolle, weder bei ihren Auftraggebern noch den Mannschaften. Schließlich lebt man im 21. Jahrhundert. Und dennoch – ein bisschen verleiht der Schatten ihres Vaters ihr ein bisschen extra Autorität, was sie nur noch energischer und eigenständiger macht.

Einverstanden

Bei dieser Überfahrt nach Guadeloupe passiert etwas Ungewöhnliches. Ihr erster Offizier bitte sie ob man nicht für kurze Zeit, hier im offenen Ozean eine Badepause einlegen könne. Statt diese Bitte mit einem unmissverständlichen Nein abzulehnen, sagt sie einfach laut und klar und überraschend für alle Einverstanden.

Als sich der erste Offizier nach vier Tagen auf offener See beim Abendessen zu ihr beugt und mit einem Freimut, der ihm sonst fremd ist, fragt, ob man nicht einfach mal die Motoren abschalten, die Rettungsboote zu Wasser lassen und eine Runde schwimmen gehen könne, sagte eine Stimme aus ihrem Mund ohne nachzudenken: „Einverstanden“. Und noch einmal: „Einverstanden“. Eine kurz Stille, natürlich, und dann ein lautes, ungläubiges Lachen. (S. 15)

Bei diesem „Einverstanden“ merkt man als Leser sofort, dass dies ein Wendepunkt in der Erzählung ist. An dieser Stellte beginnt ein Ausbrechen aus der sonst so schützenden Routine. Es herrscht perfektes Badewetter, keine Wolke am blauen Himmel. Das Meer ist spiegelglatt. Kein Schiff in der Nähe. Die Motoren werden abgestellt. Ein Rettungsboot wird zu Wasser gelassen. Alle 20 Männer haben sich darin eingefunden. Diese Männer sind unterschiedlichen Alters und Herkunft, Mechaniker, Ingenieure, Offiziere. Es sind Männer die wissen wer sie sind, was sie können, denen man die Welt nicht erklären muss. Männer mit verschwitzen Oberkörpern und öligen Händen, sie freuen sich wie Kinder auf auf den bevorstehenden Badespaß. Sie, die Kapitänin bleibt als einzige an Bord des riesigen Schiffes. Die Matrosen bewegen das Rettungsboot ein bisschen weg vom großen Containerschiff. In einiger Entfernung zum Schiff ziehen sich die 20 Männer nackt aus und springen in das Meer, irgendwo auf dem Atlantik zwischen Europa und Nordamerika. Die Kapitänin schaut ihrer Crew beim Schwimmen und Baden zu versucht den einen oder anderen durch das Fernglas wiederzuerkennen. Dieses Einverstanden beschert den Männern eine unvergessliche Zeit. Niemand weiteres ist an Bord. Zum ersten Mal ist sie allein auf dem großen Schiff. Und so ungewöhnlich wie der gesamte Vorgang, so ungewöhnlich ist auch ihr Verhalten, wenn sie nun durch die privaten Kabinen ihrer Mannschaft geht. Ohne zu groß zu spoilern, beim Durchzählen auf den Weg zurück an Bord zählt man plötzlich 21, statt 20 Seemänner. Was mit einem spontanen „Einverstanden“ begann entwickelt sich zu einem Mysterium, daß das gesamte Schiff erfasst und vor allem die Kapitänin.

Echokammern

Auf 157 Seiten, hat Mariette Navarro auf französisch, von Sophie Beese ins Deutsche übersetzt und vom Kunstmann Verlag herausgebracht, einen wunderschönen Roman geschrieben. Über die See ist ein Sehnsuchtsroman. In einer Welt die unserer sehr nahe ist, in der es keine großen Überraschungen mehr gibt, keine Geheimnisse, alles wissenschaftlich erklärbar und rational durchgetaktet, dort drängen sich unerklärliche Phänomene auf und rücken mit jeder Seite mehr in den Vordergrund. Navarro gelingt es die großen und schweren Fragen des Menschseins leicht in ihren Roman einzubinden. Da ist zum einen das Verhältnis, das wir zur Elterngeneration haben. Wo jede Generation dieses Verhältnis neu aushandeln muss. Dann wird unser Glaube an Technik und Naturwissenschaft auf die Probe gestellt, wenn die große Maschine mit ihren riesigen Motoren scheinbar ein Eigenleben entwickelt. Wenn die Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit, Wärme und Geborgenheit sich Bahnen bricht und unsere Wahrnehmung trübt, wenn Lagerräume, Maschinenräume, Mannschafts- und Offizierskabinen zu Orten werden in denen die Kapitänin aber auch die Crew mystische Erfahrungen machen, ist das feinste Literatur. Dabei macht Navarro nicht den Fehler, ihren Figuren plötzlich andere Charaktereigenschaften zu zuschreiben. Die Kapitänin versucht ihre Geradlinigkeit beizubehalten und die Crew versucht mit allen technischen Mitteln zu erkunden, warum der Ozeanriese kontinuierlich an Fahrt verliert. Und doch merken fast alle, hier gibt es etwas, was man nicht erklären kann. Während der Containerriese in einem Nebel auf offener See steckt, herrscht an Bord eine hektische Konzentriertheit, die Gründe für den Vortriebsverlusst zu finden, während die Kapitänin das Mysterium des 21. Crewmitglied aufzulösen versucht. Wer bist du?

Wann immer ein Roman auf dem Meer spielt, kommt dem Rezensenten unweigerlich der Vergleich mit Hermann Mellvilles Moby Dick und Ernest Hemingsways Der alte Mann und das Meer in den Sinn. Und gerade letzteres ist gar nicht zu weit gegriffen, wenn man dem inneren Dialog der Protagonistin lauscht. Sprachlich kann der Roman nicht immer höchstes Niveau halten, die Szenen der badenden Crew aber sind für mich die besten und schönsten, lebensbejahenden literarischen Beschreibungen, die ich seit langem gelesen habe. Das Containerschiff nimmt ein bisschen die Rolle der Pequod ein. Moby Dick hat 135 Kapitel auf 900 Seiten, Über die See 19 kleine auf 157 Seiten verteilt, von daher kann ein Vergleich nur ungerecht sein. Zumal der Vergleich auch hinkt, da der Ozeanriese aus Stahl, durch Metaphern beschrieben wird, die an einen Walfisch denken lassen.

Die Pumpe also. Das große Herz. Der große Muskel ist es leid, all das Blut zu transportieren, für alle zu pumpen. […] Wie kann man dir helfen, Tier? Wie können wir mit dir, dieser unentwegt pulsierenden Maschine, kommunizieren und von dir akzeptiert werden, wo wir doch nur Parasiten für dich sind, die blauäugig glauben, sie könnten sich mithilfe von ein paar bedruckten Blättern orientieren und wissen, wohin die Reise geht?

Navarro gelingt es bei ihrem Debütroman diesen eigenen Planeten Schiff und Crew darzustellen. Das Gefühl allein auf sich gestellt zu sein, die atlantischen Ufer weit weg, und im Notfall keine Rettung, trotz moderner Technik. Es gibt keinen Notfall nur dieses bermudamäßige Mysterium, in das sie kurzzeitig geraten sind. Der Roman bekommt einen durchaus überraschenden Abschluss.

Fazit:
Ein Roman bei dem Navarro alles richtig macht. Ein Buch das zum Träumen und zum Nachdenken anregt, dem Leser genügend Friktion mitgibt ohne Wunden aufzureißen. Beste Unterhaltung.

Frau mit langen brauen teils grauen Haaren, braunen Augen und langer Nasenrücken, in Schwarzem T-Shirt, lächelt in die Kamera
Foto unter Copyright: Philippe Malone

Mariette Navarro, geb. 1980, ist Schriftstellerin und Dramaturgin. In dem kleinen französischen Verlag Cheyne gibt sie eine Reihe poetischer Prosatexte mit heraus, darunter ihre eigenen, Alors Carcasse (2011, Robert Walser Preis 2012) und Les Chemins contraires (2016). Auf Deutsch erschien 2014 Wir Wellen. Zudem hat sie mehrere Stücke geschrieben. Über die See ist ihr erster Roman.

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Fakten:
Buchcover von Seltene Erde. Schwarzer Weltraum im Hintergrund sind Saturnringe zu sehen
Buchcover: Über die See
Autor: Marietta Navarro
Titel: Über die See
Übersetzung: Sophie Beese
Seiten: 157
Verlag: Kunstmann Verlag (München)
VÖ-Jahr: 2022
Preis: 20,00 €