Das Wilde Denken – Die Wilde Möre
Der Pariser Anthropologe David Manzon, knapp über Dreißig Jahre alt, will es jetzt wissen, nicht unbedingt die Geschichten der Dorfbewohner in La Pierre-Saint-Christophe, sondern will sich in seine Doktorarbeit stürzen und endlich seinen akademischen Träumen nachkommen. Jetzt oder nie. Sein Forschungsgegenstand ist die Region um Marais Poitevin, nördlich von La Rochelle an der Atlantikküste, westlich von Niort gelegen, Frankreich. Es ist eine von Landwirtschaft geprägte Region, unauffällig, ein paar Wälder, Bewässerungskanäle, ansonsten nichts großes. Wie ist das Leben der Bevölkerung in der Region und welche Historien sind hier noch verborgen, das sind die Kernfragen die er bearbeiten will.
David hat sich bei der 60-Jährigen Mathilde in einer Art Einliegerwohnung einquartiert. Seine Bleibe nennt er großspurig und selbstironisch „Das Wilde Denken“. Er sieht sich gerne als kommenden Claude Lévi-Strauss, denn er müsste nur noch seine Doktorarbeit zu Papier bringen. Nur noch. Deswegen ist er aus Paris geflüchtet. Nach Saint-Christophe mit seinen gerademal 649 Einwohnern, wo er hofft seine Dissertation schreiben zu können. Ohne Ablenkung. Die Dorfbewohner sind für ihn provinzielle Dummköpfe. David hofft, das er recht hat, aber irgendwie ahnt er es, das es auch umgekehrt sein könnte. Jedenfalls vertrödelt er seine Zeit mit Tetris spielen und Tiefkühlpizza. Einhundert Interviews wollte er führen, streng wissenschaftlich, empirisch und nachvollziehbar. Tatsächlich geht es nicht voran. Meine Doktorarbeit kommt nicht voran, aber mein Sozialleben macht große Fortschritte.
schreibt er ironisch konnotiert in sein Tagebuch. Das Stimmt.
Er geht ins Angler-Café, was nichts anderes ist als die Dorfkneipe, auch wenn es dort Angelbedarf zu kaufen gibt. Das ist Tarnung um gemeinsam zu saufen und Karten zu spielen. Dort steht der dicke Thomas hinter der Bar, dort begegnet er Lucie die Biogemüse anbaut zum ersten mal und lernt den Bürgermeister Martial Pouvreau kennen. Der sympathische Martial übt das Amt des Bürgermeisters ehrenamtlich aus und ist gleichzeitig Pfarrer und Totengräber. Auch den Dorftrottel Arnoud sieht er dort zum ersten mal. Ein Schwachkopf mit Inselbegabung, weniger despektierlich ausgedrückt, mutmaßlich ein Autist mit Inselbegabung.
Den akademischen Abstand zu seinem Gegenstand hat er schnell verloren, er versucht noch Haltung zu bewahren vor sich, vor seinen Doktorvater Prof. Yves Calvet und vor allem vor Lara seiner langjährigen Freundin die in Paris auf ihn wartet. Lara die hoffte, dass aus dem verbummelten Studenten endlich ein Doktor der Anthropologie wird und die angestrebte akademische Karriere endlich Fahrt aufnimmt und man gemeinsam im mondänen Paris zur bildungsbürgerlichen Klasse aufsteigen kann. Nix da.
Sein Mofa, nennt er Jolly Jumper. Ohne Ironie hält David es nicht aus. Er lernt Max kennen. Max ist Künstler, Maler und Bildhauer. So wie David ist Max ebenfalls aus Paris geflohen, um hier in der Peripherie an etwas ganz Großen zu arbeiten nur um mit Wucht wieder in der Pariser Kunstszene einzuschlagen aus der er einst geflohen ist. Da haben sich zwei gefunden.
So lernt man durch die Tagebucheintragungen das Personaltableau kennen. Zwischendurch gibt es Einspielungen die Énard „Chanson“ nennt. Mythologische Kürzestgeschichten oder Sagen aus der Region, die in Frankreich als Volks- oder Kinderlieder bekannt sind. Insgesamt gibt es Sechs verschiedene Chanson, die unterschiedliche Epochen und Inhalte widerspiegeln. So geht es in einem Chanson um einen Matrosen der nach jahrelanger Kriegsfahrt in La Rochelle in seine Heimat zurückkommt, seine Frau ihn aber nicht mehr erkennt, ihn tot glaubte und neu geheiratet hat.
Das Jahresbankett der Totengräber
Es ist Zufall das es Neunundneunzig Männer aus dem Leichengewerbe sind, nächstes Jahr werden auch Frauen dabei sein, so der Beschluss der mit demokratische Abstimmung unter den Leichenbestattern gefasst worden ist. Seit Jahrhunderten in der Region Frankreichs gewachsen, findet einmal im Jahr, im Februar das Jahresbankett der Totengräber, Sargträger und Leichenwäscher statt. Einmal im Jahr will sich die Zunft der Totengräber der Traurigkeit entledigen, die ihr Gewerbe mit sich bringt. Zwei Tage im Jahr in denen kein Mensch stirbt, niemand unter die Erde gebracht werden muss. Zwei Tage in denen nicht der Tod gehuldigt, sondern das Leben gefrönt werden kann. Es gibt nicht viele Regeln auf dem Bankett der Totengräber außer das vorgebrachte Reden der Unterhaltung dienlich sein müssen, spannende, witzige Vorträge, ödes Gelaber will keiner hören. Der Bürgermeister Martial Pouvreau war dran das Festmal für die Brüderschaft zu organisieren. Nachdem es letztjährig ein vergleichbar mickriges Bankett für die Totenpfleger gab, verlegte er das Bankett in das Refektorium der Abtei von Maillezais.
„Brüder und Freunde! Sargträger und Bestatter! Hiermit erkläre ich das Jahresbankett der Totengräber feierlich für eröffnet! Lasst uns singen!“, und sofort legten alle los, die einen versprühten Krümel, andere (die Schleckermäuler) spuckten ein ganzes hartes Ei oder einen Froschschenkelknochen aus, während sie die Hymne der Bruderschaft anstimmten, einen gravitätischen und langsamen Marsch in d-Moll – der Tonart, die Mozart Gevatterin Tod zugedacht hatte –, von einen unbekannten Reimeschmied mit lateinischen Versen ausstaffiert, die von Pluralformen des Ablativs auf -ibus nur so strotzen, die in fidelium partibus, das Kennzeichen der wahren poetischen und gelehrten Sprache sind. Alle sangen, die Hand auf dem Herzen, den Refrain de poenis inferni et de profundo lacu, „von den Qualen der Hölle und vom Schlund der Unterwelt und den hebräischen Vers, yǝhē šǝmēh rabbā mǝbārak, „gelobt sei der Name des Herrn“, Heiden und Juden, Katholiken und Muslime, Protestanten und Atheisten, glühende Marxisten oder Mitglieder der Petite Église des Deux-Sévres, alle schmerten die Hymne aus voller Kehle, denn ob sie aus der Gegend stammten oder von weit her kamen, das Prinzip der Brüderlichkeit unter den Bestattern erforderte dass jeder großmütig seine Überzeugungen der Garderobe der Bruderschaft abgab.
Die ritterliche Opulenz, dieses Gelage, diese enthemmte Fress- und Sauforgie, ist eine Konzentration irdischer Wonnen. Eine grandiose Völlerei, wo es einst hieß Ora et labora (bete und arbeite), ein Ort wo Benediktiner einst die Ewigkeit huldigen, feiert das Bestattungsgewerbe für Zwei Tage das Leben. Was für eine Ironie. Das Kapitel ist zudem eine Liebeserklärung an die französische Küche. Kein Kochbuch könnte dick genug sein, keine Speisekarte lang genug um dieses Festmahl adäquat zu kanonisieren. Ein Pieter Bruegel oder Hieronymus Bosch hätten an Énards langezogenen Beschreibungen ihre Freunde und sicher großformatige Wimmelbilder gemalt.
Dem ausgebildetem Koch, der Mathias Enard ist, fehlt es weder an Detailwissen noch an Wörtern diesen Schmaus mit seinen vielen Gängen und Gerichten und nicht zu vergessen die alkoholischen Getränken, über mehr als Hundert Seiten hinweg in Bruegel-Bosch-Manier zu beschreiben. Die Übersetzung von Holger Fock und Sabine Müller muss hier lobend Erwähnung finden.
Das Lebensrad
Die Dorfbewohner, Lucie zum Beispiel, waren schon mal da, hatten frühere Leben. Mal waren sie Soldaten in Napoléons kriegen, mal kämpften sie für oder gegen Katholiken. Bei missfallen der Taten, haben die Götter sie auch schon mal als niederes Getier wiederkommen lassen. Als Würmer zum Beispiel, Würmer wie sie in Davids Dusche zu finden sind. Sie brauchen, dann viele Generationen um wieder als Säugetier über die Felder der Marais Poitevin zu hoppeln. Der französische Philosoph und Staatstheoretiker Montesquieu hat in seinen Wahrhaftigen Geschichten einen ähnlichen Plot geschrieben. Es ist gut möglich das Énard dies als Vorbild nahm.
Für Énard ist das Lebensrad, der ewigen Kreislauf der Wiedergeburt, der Kniff mit seinen Figuren durch die Zeit und Epochen zu reisen. Das ist Exzellent umgesetzt. Wie ein Archäologe durch eine stratigraphische Grabung durch die Zeit reisen und Geschichte deuten kann, lässt uns Mathias Enard durch das Rad der Wiedergeburt, am anthropologischen und historischen Geschehen des Marais Poitevin teilhaben. Dadurch finden sich zahllose Miniaturen in den Roman wieder, deren Erzählungen miteinander verwoben sind und deren Schussfaden auch immer bis zur Gegenwart reicht. So ist es gerade zu witzig, elegant und famos geschrieben, das der vormalige Pater Largerau, der unter dem Zölibat und seiner Wollust litt, jetzt aber als Eber durch die Wälder Niorts streift und seine Bachen nach Lust und Laune besteigen und anschließend erschöpft aber total erquickt ins Laub fallen kann. Der dicke Thomas war eine Bettwanze in Napoléons Feldlager, wo er dem später verbannten ordentlich in die Wade zwickte.
Wie schon im vorherigen Roman Kompass in dem Énard die künstlichen Grenzen zwischen Orient und Okzident niederriss und dem Orient, der muslimischen Welt die Würde und Anerkennung zu kommen lies die sie verdient, eine Liebeserklärung schrieb, so dreht sich der neue Roman wieder nicht um einen Helden, sondern wieder steht eine Region und Kultur im Mittelpunkt, die Sumpfregion Marais Poitevin, und wieder lässt sich das als Liebeserklärung lesen. Dem inzwischen liebgewonnen akademischen Fehlzünder David, gereicht es nicht zum Helden – aber er ist ein bisschen Hans im Glück geworden.
Auf den knapp Fünfhundertseiten spielt Énard mit zahlreichen Textsorten. Tagebucheintragungen, Gedichte und Lieder, gar eine Anleitung für ein Kartenspiel, für La Belote ist dabei, ein Kartenspiel das hier, östlich der Elbe völlig unbekannt ist. Es gibt Reden die auf dem Bankett gehalten werden, einige Fußnoten und Anmerkungen und sogar ein Drama ist angedeutet. Enard spielt mit Emojis und Chatprotokollen. Das ganze ist ein Epos das mit schwerer inhaltlicher Opulenz aufwartet. Der Roman ist intellektuell, bildungsbürgerlich, selbstironisch, vielschichtig und modern konstruiert. Eva Menasse monierte im Literarischen Quartett das Énard von allem zu viel will. Diese Wertung kann ich durchaus verstehen, jedoch würde ich eher beim Bildnis des Weines bleiben, vom überschwappenden Weinbecher den der Mundschenk nach jedem Schluck Randvoll wiederauffüllt reden. Ein Roman voller Details, ein Epos das man mehrfach lesen kann und jedesmal neues Endecken wird. Die meisten Kritiker sind vollen Lobes für Das Jahresbankett der Totengräber. Dem schließe ich mich an, ganz große Kunst.
Mathias Énard, Mathias Énard (* 11. Januar 1972 in Niort, Département Deux-Sèvres, Frankreich) ist ein französischer Schriftsteller und Übersetzer.
Quelle: Wikipedia
Fakten: | |
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Autor: | Mathias Énard |
Titel: | Das Jahresbankett der Totengräber |
Seiten: | ca. 480 |
Verlag: | Hanser Verlag |
VÖ-Jahr: | 2021, 26€ |
Übersetzung: | Holger Fock und Sabine Müller |