Abfahrt
Sao Paulo. Die Norwid, ein polnischer Frachter soll Kaffee und Kakao von Südamerika in die DDR und nach Polen bringen. Neben Fracht und regulärer Schiffsbesatzung sind rund ein Dutzend Passagiere mit an Bord. Nicht ungewöhnlich zu dieser Zeit. Transatlantische Flüge waren damals extrem teuer. Eine Schiffsreise besonders mit einigermaßen viel Gepäck, dagegen sehr viel kostengünstiger. Die Passagiere sind in Extrakabinen des Frachters untergebracht. Die Reise von der Ostküste Brasiliens bis nach Rostock und weiter nach Polen dauert rund 3 Wochen.
Im Zentrum der Rahmenhandlung steht der Ich-Erzähler Franz Hammer. Er wurde von seiner Kombinatsleitung, in seiner Funktion als Landmaschinentechniker, dazu beauftragt, in dem südamerikanischen Flächenland einst gelieferte Landmaschinen wieder in Stand zu setzen. Neben Franz Hammer gibt es die Nonne und ihr Gefolge, den polnischen Bettnachbarn Woytek, den polyglotten Techniker Sadowski und die wichtigste Person für diese Erzählung, den Tropenmediziner Dr. Ernesto Triebel und weitere Passagiere.
In den warmen und tropischen Nächten steht Franz Hammer meist an der Reling und blickt in Ruhe aufs Meer, Dr. Triebel gesellt sich dazu und beginnt aus seinem Leben zu erzählen. Ohne Widerstand und Kommentar lässt er den Mediziner erzählen. Ein Vertrautheit herrscht zwischen den beiden Männern, deren Ursache in den Geheimnissen des Meeres, einer mehrwöchigen Überseefahrt und hochgezogenen Landungsbrücken seine Quelle hat. Über 3 Wochen hinweg erzählt Triebel Hammer seine Liebesgeschichte. Eine Geschichte die damit beginnt, wie er als Kind mit Mutter und Vater Nazideutschland hinter sich ließ und sie in Brasilien als Familie Rettung suchten. Die geliebte weichherzige Mutter starb kurz nach der Ankunft. Der junge Ernesto, noch ein Knabe, kam in ein Internat. Der Vater konnte seine innere und äußere Härte nie ablegen. Im Internat sprach Ernesto anfänglich kein Wort portugiesisch. Das brachte ihm, die gleichaltrige, einige Zeit früher Emigrierte Maria Luise Wiegand bei. Auch sie floh mit ihren Eltern aus dem faschistischen Deutschland, genauer gesagt aus Thüringen, Ilmenau. Ihre Mutter starb noch in Deutschland, ihr Vater an einer tropischen Krankheit. Das Weisenkind ist sowohl im Internat als auch bei einer Tante untergekommen. Diese Liebesgeschichte zwischen den beiden, zwischen Ernesto und Maria Luisa, die sich als Kinder anfreundeten und auch als Teenager und junge Erwachsene eine enge emotionale Bindung haben, ist die Binnenhandlung der Erzählung von Anna Seghers.
Maria Luisa lebt bei der Tante. Nach dem Krieg geht Ernesto in die DDR um sein Medizinstudium fortzusetzen. Der Plan war, dass Maria Luisa nachkommt, sobald Ernesto genügend Geld für ein Billett zusammen gespart hat. Doch zum einen gelingt es Ernesto nicht zügig genügend Geld für die Schiffsreise zusammen zu bekommen und zum anderen, je länger die Monate ins Land ziehen, die räumliche Entfernung für Maria Luisa ein emotionales Problem wird. Sie wirkt in dem beiderseitigen Briefwechsel zunehmend distanzierter, bis es schließlich zum Bruch von ihrer Seite aus kommt. Sie heiratet den ehemaligen gemeinsamen Klassenkameraden Rudolfo. Er ist ein wohlhabener Kaufmann. Während sie bei Rudolfo die benötigte Nähe gefunden hat, bleibt Ernesto dagegen in dieser inzwischen unglücklichen Liebe verhaftet. Bei seiner zweiten Reise nach Brasilien wird ihm der Tod von Maria Luisa übermittelt. Bei seiner dritten Reise zu einem Ärztekongress kommen ihm Zweifel über den Wahrheitsgehalt über den Tod Maria Luisas. Er trifft zufällig Rudolfo und dessen Ehefrau. Eine Frau, die Maria Luisa zum verwechseln ähnlich sieht, sich aber ganz anders gebärdet, und ihn, Ernesto, den Jugendfreud nicht wiedererkennt sondern ganz vernarrt, gemeinsam mit ihren affrösen Freundinnen, ins Kartenspielen ist. Ist sie es oder ist sie es nicht? Sie ist zumindest nicht die warmherzige, weiche liebevolle Maria Luisa mit ihrer sonnenbraunen Haut, wie sie Ernesto in Erinnerung hat.
Ich sage: „Wir sind jetzt achtzehn Tage unterwegs. Bitte, Ernst Triebel, hören Sie endlich auf, sich mit dieser Sache zu quälen. Lassen Sie Ihre Maria tot sein. Sie werden die Frau auf keinen Fall wiedersehen. Ich bitte Sie inständig, machen Sie Schluß mit diesen sinnlosen Quälereien.“
Ankunft
Erste Ideen und Manuskripte für die Erzählung Überfahrt werden Anna Seghers für Mitte, Ende der 1960er Jahre nachgesagt. Es macht Sinn, Überfahrt in den selben literarischen Schaffensraum und Kontext zu stellen wie die 1967 erschienene Novelle Das wirkliche Blau, die ein romantischer Rückblick Seghers auf ihre Zeit in Mexiko ist. Überfahrt ist mit 176 Seiten nur unwesentlich länger und wurde in der 1971 im Aufbau-Verlag erstveröffentlicht.
Anders als Das wirkliche Blau ist Überfahrt viel weniger verklärend, sondern eine traurige Geschichte, die emotionale Verletzungen und Unzulänglichkeiten der Protagonisten wiedergibt. Ein selbstkritischer Blick auf die Zeit in Brasilien, also während der Diktatur in Deutschland, als auch eine echte Kritik auf die Zeit in der noch jungen DDR, sowie auch den recht deutlichen Fingerzeig auf die DDR der Gegenwart ab Mitte der 1960er Jahre. Wir erinnern uns, 1961 begann der Mauerbau.
In der Novelle wird ein kleines Tableau an Persönlichkeiten skizziert. Seghers arbeitet nicht gerade wenig mit Stereotypen, oder anders gesagt mit Personae die Musterbiografien haben. Das ist, so meine Einschätzung der literarischen Kurzform geschuldet. Darüber hinaus sind die Figuren die auf dem Frachtschiff sind, im Kontext der DDR-Historie zu lesen. Am eindrücklichsten finde ich Seghers Schilderung von Prof. Dahlkes "Republikflucht", der sich über Brasilien in die USA absetzt. Seghers stellt ihn als Unsympath und Dieb dar. Das lässt sich als doppelte Kritik lesen. Zum einen Kritik an jenen die zu hunderten und tausenden "mit den Füßen Abstimmen", dass sie sich nicht einbringen im Aufbau eines "Neuen Deutschland", des besseren Deutschland und zum anderen an der Unfähigkeit der Partei, dem ZK der SED, adäquat, mit politischen Reformen und Handeln auf diese Talentflucht, zu reagieren. Eine Kritik am Mauerbau.
Was aus heutiger Sicht nur noch durchschimmert aber in der DDR immer galt, das echter Kaffee, echter Kakao, Ananas Mangelware war. Das tropische Früchte bei vielen Menschen Fernweh auslösten, und ein Dosenananas ein Zeichen dafür war, dass es außerhalb der Grenzen, die man den DDR-Bürgern zubilligte noch eine Welt da draußen gab.
Seelennarben
Seghers Überfahrt wird gegenwärtig selten rezipiert, sicher stehen ihre Novellen im Schatten ihrer großen Romane, wie Transit und Das siebte Kreuz. Zudem ist man schnell dabei, Überfahrt als Liebesgeschichte unterzubewerten. Dabei schreibt sie in hoher Kunstfertigkeit auf, warum die Liebe zwischen Maria Luisa und Ernesto keine glückliche Fügung findet. Auch wenn die Figuren etwas holzschnittartig und nicht in allen Ecken ausdifferenziert rüberkommen, so liegt das wie ich schon erwähnte, an der literarischen Kurzform. An den Unzulänglichkeiten, an den beide Liebenden leiden, sind sie nicht schuld. Es sind die Narben und Verluste der Vergangenheit. Der verdammte Hitlerismus. Der Verlust von der warmen Mutter und dem sorgenden Vater. Wobei Vater sich bei Seghers vielleicht auch als Vaterland dechiffrieren ließe.
Der Aufbau mit der unterschiedlichen Zeitsträngen ist kompositorisch recht gut gelungen, hätte so aber nicht sein müssen. Die emotionalen Verwerfungen die der Protagonist erleidet, wären auch ohne die Reisen verständlich gewesen. Als Bildnis jedoch sind die drei Überfahrten durchaus gut. Denn dieses Hin- und herfahren ist ein Walken der eigenen Seele, das Ernesto als literarische Figur aber auch der Autorin Anna Seghers vertraut ist. Anna Seghers, die selber im lateinamerikanischen Exil war, während in Deutschland die Nazis an der Macht waren. Für Seghers blieben Mexiko und Lateinamerika nach ihrer Rückkehr nach Deutschland Sehnsuchtsorte an die sie gerne zurück dachte. In Ernestos Figur lassen sich einige Parallelen zu Anna Seghers herauslesen. Wie bei fast allen Rückkehrern haben die Jahre im Exil deutliche Spuren hinterlassen und prägten so manches Verhalten.
Oft wohnten drei oder vier in einem Zimmer. Ich war aber, wie ich Ihnen erzählte, an keinen großen Wohnungen gewöhnt. Meine Handkoffer baute ich, wie in der Emigration, als Tisch zusammen. (S.65)
Als Rezensent komme ich nicht darum herum Überfahrt mit der Schachnovelle von Stefan Zweig zu vergleichen. Dabei kommt man schnell zu dem Ergebnis, dass beide Werke sehr unterschiedlich sind. Sie haben einen unterschiedlichen Duktus. Ist die Schachnovelle dadurch gekennzeichnet dass sie eine elegante und fließende Sprache hat, ist die Überfahrt, das ist durchaus als Kritik meinerseits zu verstehen, Teils mit schroffen Brüchen im Erzählstrang versehen. Außerdem ist Seghers Erzählung deutlich mit einem politischen Impetus versehen, der eine versteckte aber doch deutliche Kritik an der damaligen Politik aufweist. Das Thema Republikflucht das Seghers hier aufmacht, dürfte den Genossen nicht gefallen haben. Vielleicht liegt darin der Grund für die relativ späte Veröffentlichung.
Anna Seghers, gebürtig Annette (Netti) Reiling, war eine deutsche Schriftstellerin und von 1952 bis 1978 Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR.
Fakten: | |||
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Autor: | Anna Seghers | Titel: | Überfahrt – Eine Liebesgeschichte |
Seiten: | ca. 176 | ||
Verlag: | Aufbau-Verlag Berlin und Weimar | ||
EA-Jahr, VÖ-Jahr: | 1971 |