Das Vorwort
Der knapp 120-Seitige Essay gliedert sich in ein Vorwort und zwei Hauptkapitel auf. Zum ersten Verschwendung des öffentlichen Raumes
und zum zweiten Einsamkeit und Punktzeit
, diese gliedern sich in zahlreiche Unterkapitel.
Folgende sechs Thesen gibt er im Vorwort an.
1. Wir leben immer im Jetzt.
S.12. Daraus resultiert Simanowskis 2. Arbeitsthese, dass der Verzicht auf Geduld und Ausdauer
, Lustaufschub und Impulskontrolle
zu einer Kurzsichtigkeit
führen wird die langfristig den gesellschaftlichen Zusammenhalt und ja!, die Zukunft des Planeten aufs Spiel.
setzt. Als 3. These will S. Aufzeigen, dass das Internet, die Prozesse aber auch das Mittel sein können die Kurzsichtigkeit
zu korrigieren. 4. These die er in dem Essay unterfüttern möchte lautet: Das letzte „grand narrative“ ist nummerisch.
Als 5. These die sich schon im Titel des Essay widerspiegelt lautet: Verliert … der Raum die Zeit, verliert der Mensch den Raum.
Die letzte und 6. These die der Autor im Vorwort aufstellt ist, dass er das Smartphone als Trojanisches Pferd darstellt, das uns in eine Zukunft bringt, gar zwingt. Egal ob wir persönlich ein Smartphone nutzen oder nicht. S.14
Gedanklich reiten wir auf einem Trojanischen Pferd, wissen nicht was sich im Bauch des Trojanischen Pferd befindet noch haben wir Einfluss auf den Weg oder das Ziel. Ein Kind auf einem Steckenpferd hat mehr Entscheidungsfreiheit als wir die in einer smartifizierten vom Plattformkapitalismus verseuchten Gesellschaft leben.
Simanowski macht aber unmissverständlich deutlich, dass es ihm, in seinem Essay nicht darum geht gute Aspekte des Internets zu negieren. Nie war es einfacher in Kontakt mit jemanden zu bleiben. Es geht ihm nicht darum Vor- und Nachteile gegeneinander aufzurechnen, sondern um einen geschärften Blick auf bestimmte Prozesse und deren mögliche Langzeitfolgen.
S.15. Das Vorwort stellt den Untersuchungsgegenstand vor sowie entsprechende Fragestellungen. Leider wird hier schon reichlich gespoilert, so meine Kritik.
Der Die Das Smombie
Zuerst geht S. Auf den Verlust von Raumerfahrung ein
. Die Ursache liegt für ihn im ambient attention, übersetzen ließe sich das mit zum einen wohlige Aufmerksamkeit aber auch als wohlige Unaufmerksamkeit, beides hat in dem Fall seine Richtigkeit.
In zwischen gehört es zur täglichen Erfahrung: Passanten, die auf Handy starren, nicht nur in der Ubahn, sondern auch beim Gehen in der Stadt. Menschen, deren ambient attention nicht weiterreicht als bis zum nächsten Hindernis. Widerstand, gar ein trotziges In-den-Weg-Stellen, wenn diese Smartphone Zombies, oder Smombies – durch überfüllte Straßen schleichen, wirkt da hilflos aggressive: Sie weichen einem aus, ohne aufzublicken. Da bleibt nur die Schadenfreude wenn sie vor lauter Nicht-hier-Sein den Fahrstuhl zu früh verlassen oder die falsche Toilette aufsuchen. S20.
Dass der Smombie nicht nur ein wenig verpeilt ist, sondern das Phänomen des ambient attention auch sudden death (plötzlicher Tot) bedeuten kann, mach Simanowski an einer Handvoll unterschiedlicher Beispiele klar die er als Death by GPS betitelt. Wenn so, ein Beispiel von vielen, etwa das Navigationsgerät einen weit hinaus in die Wüste führt, ohne genügend Benzin, Wasser und Nahrung dabei zu haben, der Wagen wegen Benzinmangel stehen bleibt, weit und breit kein Handynetz, keine Hilfe in Sicht, dem Navi mehr vertraut als der eigen Intuition.
Stärker als Death by GPS, hat das Smartphone Einfluss auf urbane Räume, wobei klar gesagt wird, das nicht das Smartphone an sich die Ursache für bestimmte Entwicklungen ist, sondern lediglich Erfüllungsgehilfe
. Das Smartphone ist Erfüllungsgehilfe für Unternehmen des Plattformkapitalismus. Dominierend dabei sind Unternehmen aus dem Silicon Valley. Die Apps auf den Display sind bunt wie Candy Crush Steinchen. Süß und verführerisch, wird der Nutzer süchtig gemacht. ARTE hat dazu eine Dokuserie unter der Überschrift Dopamin gemacht die inzwischen in der 2. Staffel läuft und die Mechanismen dahinter anschaulich darstellt.
Es sind nicht nur Apps wie Tinder, Instagram also Digitale-Social-Media von den man abhängig werden kann, in besonderer Weise sind es auch die angesprochen NavigationsApps, oder Dienste wie Uber, Bringdienste von Lieferando und Flink, wie sie alles heißen mögen, die unsere Beziehung zur Welt beeinflussen und in der Summe auch unsere Städte transformieren. Die E-Roller die in Berlin kreuz und quer überall im Weg stehen bleiben den Touristen sicher ebenso im Gedächtnis wie der kurze Blick aufs Brandenburger Tor. Die Gig Economie ist in ihrer unzureichend reglementierten Ausprägung deutlich zu spüren. Diese Apps, also Anwendungen und Geschäftsmodelle des Plattformkapitalismus, haben nicht nur Einfluss auf unsere Psyche sondern prägen in der Summe unsere Städte. Dass man überall die Lieferanten in ihren orangen oder türkisen Uniformen sieht oder wie gesagt die E-Roller verstreut auf den Fußwegen stehen, sind nur die augenscheinlichsten Phänomene. Übrigens spielt sich dies nur in den Ballungszentren ab, nicht in der Peripherie, in den Vororten wo es eigentlich sinnvoller wäre. Eine alternde Gesellschaft auf dem Land könnte von den Ondemand(Aufabruf)-Prinzipien profitieren. Für die global agierenden Unternehmen, sind die zu erwartenden Profite die in ländlichen Regionen zu erwarten wären aber offensichtlich zu klein.
Die weniger offensichtlichen Auswirkungen sind, wenn die Stadt Straßen neuerdings als reine Fahrradwege ausweist. Wenn Autofahrer Verkehrsschilder völlig ignorieren, die Fahrradstraße erst dann praktische Realität wird, wenn die Information auch bei Googlemaps angekommen ist und Autohersteller ihre Navis geupdatet haben. Den Einfluss solcher Phänomene hat der Künstler Simon Weckert Anfang 2020 in dieser Performance schön dargestellt.
Aber nicht nur Verkehrsströme werden aus dem Silicon Valley gelenkt, sondern auch das ökonomische Überleben von Restaurants und Geschäften alle Art sind zunehmend davon abhängig wie sie im Internet von Gästen bewertet werden. Alle sind Erpicht darauf, möglichst viele Bewertungen auf Yelp und den zahlreichen anderen Bewertungsplattformen zu bekommen. Wobei die überwiegende Mehrheit dieser Plattformen sei es booking.com oder tripadvisor.de, ohne Google (Alphabet) als Überbau nicht funktionieren. Taucht dein Restaurant oder Laden in den Plattformen nicht auf oder hat schlechte Bewertungen findet dein Unternehmen für Google nicht statt. Du verschwindet aus den Portalen, von deren Suchmaschine, von der GoogleMap. Dein Hotel findet sich in der Suchmaschine trotz präziser Stichwörter, höchstens irgendwo versteckt ganz hinten wieder. Die kleinen familiengeführten Unternehmen verschwinden aus dem Stadtbild. Restaurants die in GoogleMaps nicht anzeigt werden, werden nicht aufgesucht, existieren für den Smombie nicht. Bestimmte Elemente einer Stadt verschwinden aus dem Wahrnehmungsraum, virtuell oder auch zum Teil auch real.
Gravierender als der Verlust von dem inhabergeführten Ladengeschäft um die Ecke, sind die folgen des Prozess ihrer Digitalisierung
für die sozial Geächteten, die Junkies, Obdachlosen, für all jene die eh schon ganz unten in der sozialen Hierarchie stehen und sich im öffentlichen Raum bewegen. Dieser Personenkreis ist auf mindestens zweifacher Art und Weise von der Unsichtbarwerdung getroffen. Der Smombie auf dem Weg zur U-Bahn sieht die Elenden nicht mehr. Die Elenden werden ausgeblendet. Der Smombie starrt auf sein Smartphone, er überwindet den Raum zwischen Straßenbahnhaltestelle und U-Bahnstation wie Raumschiff Enterprise den Raum zwischen zwei Sternensystemen, mit der Krümmung der Raumzeit. Während der Smombie in seinem Raum-Zeit-Sprung Richtung U-Bahnstation unterwegs ist, findet der Bettler, der Straßenmusikant, der Zeitungsverkäufer nicht statt. Kein Euro landet im Hut des Akkordeonspielers, nicht ein freundlicher Blick erreicht den Penner, und eine Obdachlosenzeitung wird dem armen Schlucker auch nicht mehr abgekauft. Dieses Klientel hat kein ApplePay, PayPal etc.. Die Unsichtbarwerdung hängt mit dem Verlust der Aufmerksamkeit zusammen. Es wird sich der Umwelt entledigt. Ein zu gehender Weg, war bisher immer gleichbedeutend mit Raumerfahrung. Mit dem Smartphone in der Hand trennt sich der gemeinsame Erfahrungsschatz. In dem einleitenden Satz zum Kapitel Raumentsorgung
hat Simanowski es so beschrieben:
Die gesamte Bedeutung der Medien liegt, auch in der Trennung, die sie vornehmen. Wenn das „Fahrzeug“ – Smartphone vom Raum zwischen A und B trennt, trennt es zugleich von Menschen, die einem dort begegnen könnten. Die Obdachlosen, die Straßenmusiker, die UNICEF-Aktivisten und die von den Nationalsozialisten verfolgten Juden, an die die „Stolpersteine“ des Künstler Gunter Dennig erinnern. […] Sie alle verkommen in der ambient attention zu Objekten, mit denen es eine Kollision zu vermeiden gilt.
Die Quintessenz die Simanowski aus seinen Überlegungen zieht ist folgendes. Das Smartphone ist mehr als U-Bahn und Flugzeug, es ist der Helikopter (oder Volocopter) des Kleinen Mannes
S.53
Der Flaneur, der mit offenen Augen einfach mal in Ruhe mit bedacht ziellos durch die Gegend läuft unbekannte Urbane Räume und Gegenden erkundet gibt es kaum noch. Heute haben alle immer einen Plan, Termin, keine Zeit und sehen den Weg der vor ihnen liegt als lästiges Hemmnis an, ihr Bedürfnis sofort und unmittelbar zu befriedigen.
Das Marshmallow-Experiment
Im zweiten großen Kapitel Die Punktzeit – über Impulskontrolle
stehen zwei Begriffe im Mittelpunkt present bias
(Gegenwartsbevorzugung) und instant gratification
(Sofortbelohnung). Lustaufschub gibt es nicht mehr. Das Internet ist nicht per se daran Schuld, das zeigt ein Blick auf die Anfänge des Internets. In den 1990er Jahren war Geduld eine Grundvoraussetzung das Internet zu nutzen, weil man zwischen dem Aufruf und dem Aufbau einer Webseite noch Kaffee kochen konnte.
Heute wartet niemand mehr auch nur Drei Sekunden, bis eine Webseite erscheint
. S.62.
Der Aspekt des Sofort-Haben-Wollens, Jetzt, nennt Simanowski Punktzeit
. Eine Diktatur der Gegenwart. Nicht das Internet an sich ist die Ursache, sondern primär die Dienste die aus dem Silicon Valley kommen, und die Ideologie des Kapitalismus ins Internet pressen. Dienste und Apps die bewusst süchtig machen wie z.B. Instagram, Tinder, TikTok (China) usw.. Es sind Unternehmen die unsere psychologischen Eigenschaften zum eigenen Vorteil ausnutzen und horrende ökonomische Profite mit unseren Schwächen machen. Unsere durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne ist inzwischen auf unter acht Sekunden geschrumpft und damit kürzer als die eines Goldfisches zitiert Simanowski eine Studie von Vito Pilici, aus dem Jahr 2015.
Das Marshmellow-Experiement handelt von der Frage Was will ich auf Dauer?
und Was will ich jetzt?
. Bei 4-Jährigen ist es unfair ihnen Unmoral oder einen Mangel an Weitblick zu unterstellen. Doch sorgen die Techniken und Ideologien des Überwachungskapitalismus dafür, dass 40-Jährige Erwachsene sich den shorttermism unterwerfen. Simanowski argumentiert mit Adorno und der Kritischen Theorie
, das Widerständigkeit von innen, von einem selber kommen muss. Diese Widerstandsfähigkeit fehlt nicht nur den Kids, die angeblich alle auf TikTok & Co rumhängen, sondern fehlt insbesondere den Wutbürgern, den Klimaleugnern und Querdenkern. Das present bias (Gegenwartsbevorzugung) ist zutiefst unmoralisch
schreibt Simanowski auf Seite 79 seines Buches, es ist verwandt mit der Denke Die Jacke ist einem näher als die Hose
. Political Correctness gilt bei Querdenkern, Neurechten und Trumpisten als Selbstzensur, dabei ist es nur eine boshafte Verweigerungshaltung, gar Unfähigkeit, Komplexitäten anzuerkennen.
Trumps Weigerung sich in Sachgebiete, über die er als Präsident herrschte, einzuarbeiten, stattdessen Stunden vor dem Fernseher zu verbringen, ist allen symphatisch, die bei den vielen Netzsensationen ebenfalls Schwierigkeiten haben, Texte ohne Bilder zu lesen oder einem Staatsgast länger zuzuhören als ein Goldfisch.
Kritische Theorie
Im Verlauf des Essay geht Simanowski vermehrt auf philosophische und soziologische Theorien ein und vergleicht im Kapitel Mängelwesen Mensch auf S.86, Adornos Ansichten mit denen des Anthropologen Arnold Gehlen. Während Adorno auf die Reflexionsfähigkeit
des einzelnen Menschen hofft, sieht das Gehlen ganz anders, so setzt Gehlen auf die die Institutionen als Bändigung des Menschen im Interesse gesellschaftlicher Harmonie
.
In dem einhundert Seiten langen Essay, wiederholt Simanowski zum Ende hin bekannte Theorien zum gesellschaftlichen Wandel, wie z.B. dass Entscheidungsarchitekturen einer Computerlogik folgen – Wenn-Dann-Konstellationen
unseren Alltag beherrschen. Verhaltenskontrolle durch Nudging und das Selbstoptimierung viel effizienter ist als Biopolitik. Über Psychopolitik hat Byun-Chul Han ganze Bücher geschrieben.
Erwähnenswert ist auch das Kapitel über das Chinesische Social Credit System, in dem er mit einigen Mythen aufräumt.
Fazit
Der Essay fängt mit einer Genese sozialer Praktiken und Erscheinungsbilder an. Die vielen nachvollziehbaren Beispiele die Simanowski bringt, geben einen plastischen Eindruck, von dem, was da so draußen als Prozess ihrer Digitalisierung gerade passiert. Das Smombie, muss hier als Referenzmodell herhalten. Dass das Smartphone an sich nicht das Übel ist, sondern die Prozesse unter der Oberfläche und welche Macht Digitalkonzerne haben, kommt ebenfalls gut zur Geltung. Nach rund der Hälfte des Buches, nach dem Ende des ersten Kapitels wechselt Simanowski seinen Fokus, hin zu Theoriegebäuden. Wie schon angesprochen werden u.a. Adorno und Gehlen analysiert, aber auch die üblichen Verdächtigen wie, Agamben, Foucault zitiert. Es ist auffällig das der erste Teil viel literarischer und geschmeidiger zu lesen ist als der zweite Teil.
Den meisten seiner 6 Thesen ist er in durchmischter Reihenfolge nachgegangen. Nur zur 3. These, in wie weit bestimmte Prozesse des Digitalen selbst Mittel sein können die Kurzsichtigkeit
zu beenden, blieb Simanowski meiner Meinung nach eine Antwort schuldig.
Roberto Simanowski, geboren 1963, war bis 2018 Professor für Kultur- und Medienwissenschaft in Providence, Hongkong und Basel und lebt seitdem als Publizist in Berlin und Rio de Janeiro.
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Fakten: | |
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Autor: | Roberto Simanowski | Titel: | Das Verschwinden von Raum und Zeit im Prozess ihrer Digitalisierung |
Seiten: | ca. 120 |
Verlag: | Passagen Verlag |
VÖ-Jahr: | 2023 |